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Stammtisch


Angst vorm Stammtisch

11    Immer wieder diese Basis! Manchmal kann sie richtig lästig sein. Da ist es zur
2 Freude des Bundesparteivorstandes endlich einmal ruhig um die leidige Glaubensfrage
3 der Liberalen, was denn nun höher zu werten sei: das Recht auf Privatsphäre oder ein vielleicht
4 - erfolgreicherer Kampf gegen das organisierte Verbrechen mittels
5 elektronischer Überwachung von Privatwohnungen - und nun das : Der Landesverband
6 der FDP in Nordrhein-Westfalen fordert eine Mitgliederbefragung über den GroBen
7 Lauschangriff (1).
28    »Von allen Parteien hat die FDP unter ihren Mitgliedern und Anhängern den
9 höchsten Anteil von Befürwortern des GroBen Lauschangriffs«, begründet Achim Rohde
10 seinen VorstoB. Bislang stützt der Fraktionsvorsitzende der FDP im nordrheinwestfälischen
11 Landtag diese Überzeugung auf Studien von Meinungsforschungsinstituten,
12 jetzt möchte der strikte Befürworter des Lauschangriffs die Parteimitglieder direkt fragen.
313    Der erste Schritt dazu ist bereits getan: Mit dem Bundesparteivorstand verständigte
14 Rohde sich darüber, daß auf dem nächsten Bundesparteitag im Juni das Instrument der
15 Urabstimmung-J in der Satzung der FDP verankert werden solI.
416    Das war nicht sonderlich schwer. Auch wenn noch unklar ist, wie bindend das
17 Ergebnis einer solchen Abstimmung schließlich sein soll - Richtungsentscheid per
18 Urabstimmung ist auch aus Bonner Sicht ein Verfahren, das sich, wohl dosiert, bei
19 Streitfragen anwenden ließe: Wollen wir eine COTSteuer oder nicht, lassen wir deutsche
20 Soldaten im Ausland kämpfen oder nicht, entspricht der § 218 liberalen Vorstellungen
21 oder nicht? »Es muß ja nicht als erstes der Große Lauschangriff sein«, meint einer aus den
22 oberen Rängen der Partei.
523    Doch genau dazu möchte Rohde möglichst rasch nach dem Parteitag, »auf jeden Fall
24 noch im Sommer«, die Liberalen bundesweit an die Urnen rufen, »damit die Funktionäre
25 in Bonn endlich begreifen, was die Basis denkt«. Denn obwohl auch die nordrheinwestfälische
26 FDP auf ihrem Landesparteitag vor zwei Jahren den Großen Lauschangriff mit
27 knapper Mehrheit - abgelehnt hat, ist die dortige Parteispitze überzeugt, daß die
28 meisten FDP-Mitglieder heute für eine Erweiterung der polizeilichen
29 Ermittlungsmethoden sind.
630    »Die Leute sind es leid, an den Stammtischen verspottet zu werden, daß der FDP die
31 Unverletzlichkeit von Verbrecherwohnungen mehr am Herzen läge als Leib und Leben
32 braver B ürger«, sagt Ulrich Marten, Geschäftsführer und Sprecher der nordrheinwestfälischen
33 FDP-Landtagsfraktion, »es ist an der Zeit, umzudenken.« Dafür brauche die
34 FDP »allerdings manchmal ziemlich lange«. Der Vorwurf zie!t vor allem nach Bonn, wo
35 die meisten Amtsträger »schon sehr lange sitzen. Die haben sich irgendwann in dieser
36 Frage festgelegt und tun sich jetzt schwer, umzudenken - das könnte ja als Umfallen
37 interpretiert werden.«
738    Wenn aber eine Mitgliederbefragung eindeutig zeigen sollte, daß die ablehnende
39 Position der Bonner in der eigenen Partei keine Mehrheit (mehr) hat, so das Kalkül der
40 neuen Basisdemokraten, sei das, egal wie verbindlich das Ergebnis laut Satzung einmal
41 sein wird, »ein politisches Signal, das auch Fraktion und Vorstand nicht ignorieren k önnen«,
842    Derzeit denkt in Bonn zumindest offiziell jedoch noch niemand ans »Umfallen«, Bis
43 1996 bestehe in Sachen Großer Lauschangriff »kein Handlungsbedarf«, heißt es aus der
44 Bonner Parteizentrale - unter Hinweis auf die Koalitionsvereinbarung. Die nennt das
45 ungeliebte Kind zwar nicht beim Namen, verspricht aber, »die in der letzten
46 Legislaturperiode beschlossenen Gesetze zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität,
47 zur Geldwäsche und zur Verbrechensbekämpfung« bis Anfang 1996 auf ihre Wirksamkeit
48 zu überprüfen. »M öglicher Gesetzgebungsbedarf wird darm einvernehmlich festgestellt.«
49 Wenn dem die Basis mal nicht zuvorkommt.
Susanne Fischer, in: Wochenpost, 12.4.1995

noot 1
Lauschangriff = afluisteroperaties

noot 2
Urabstimmung = Mitgliederbefragung