1 | 1 | | Wer hörte es schon gerne, wenn man van ihm sagte, er sei »ungebildet«? Und ei ne |
| 2 | | »gebilde te Frau- - ist das nicht wie ein Adelsprädikat? Dabei kann das Wort Bildungund |
| 3 | | die Vorstellung, die sich hinter diesem Wort verbirgt - noch nicht auf eine lange |
| 4 | | Geschichte zurückblicken. |
2 | 5 | | Die Hochschätzung der »Bildung- ist in ihrer Entstehung an das soziale Erstarken |
| 6 | | einer bestimmten Bevölkerungsschicht gebunden: an das Bürgertum. Und zwar, um es |
| 7 | | noch genauer zu sagen: an das Bürgertum im deutschen Sprachbereich. |
3 | 8 | | Im 18. Jahrhundert war damit etwas Unerhörtes, Neues,ja Revolutionäres gefordert. |
| 9 | | Bis dahin hatte nämlich jeder Stand seine eigene Vorstellung darüber, wann jemand »gut |
| 10 | | erzogen- war. Aus einem adeligen Kind hatte ein »höfliche r Mensch- zu werden, also sa, |
| 11 | | daß es sich »am Hofe« recht betragen konnte. Ein Handwerkerkind hatte »zü nftig- zu |
| 12 | | werden: Gilden, Innungen ader Zünfte legt en fest , was sie darunter verstanden. In Klosteroder |
| 13 | | Domschulen orientierte man sich an antiken ader christlichen Texten. Beim |
| 14 | | »einfachen Volk- lehrten Sitten und Gebräuche die Kinder Mores. |
4 | 15 | | Aber mit der Erkenntnis, daß alle Menschen Brüder ader Schwestern und da Bsie |
| 16 | | gleich geboren sind, fand die Vorstellung eine r standesgemäBen Erziehung kaum noch |
| 17 | | allgemeine Zustimmung. Vielmehr folgerte man aus dem Gleichheitsgrundsatz, der Basis |
| 18 | | der Menschenrechte, daß man »Alle alles auf allseitige Weise - lehren müsse. Sa hatte es |
| 19 | | im 17. Jahrhundert schon Comenius formuliert. Das Ziel einer allumfassenden Bildung |
| 20 | | war nicht der standesbewuBte Zeitgenosse, nicht der Gelehrte, sondern »der Gebildete«, |
5 | 21 | | Besonders die Autaren der deutschen Klassik haben den Begriff »Bildung- mit |
| 22 | | Leben aufgefüllt. Johann Gottfried Herder spricht es in einer 1788 gehaltenen Schulrede, |
| 23 | | die »Vorn Zwecke der eingeführten Schulverbesserung« handelt, aus: »Menschen sind wir |
| 24 | | eher, als wir Professionisten werden, und wehe uns, wenn wir nicht auch in unserem |
| 25 | | künftigen Beruf Menschen blieben!- |
6 | 26 | | Zum Staatsbürger könne man erziehen, zum Fachmann könne man durch |
| 27 | | Unterricht ader gar Schulung werden - aber Bildung meine den ganzen Menschen. Und sa |
| 28 | | solI seit Wilhelm van Humboldt das Ziel der Schulen nicht eine Erziehung zum Untertan |
| 29 | | ader eine Ausbildung zum Beruf sein, sondern die Schule salIe »Bild ung- ermöglichen, das |
| 30 | | heiBt , den Menschen dazu fähig machen, sieh selbst zu bestimmen. Die Schulen sind nicht |
| 31 | | länger Standes- ader Berufsschulen; sie werden »allgerneinbildende Schulen«. Alle |
| 32 | | Anlagen des Menschen sollen in ihm herausgebildet werden, eben damit er nicht in einer |
| 33 | | Staatsmaschinerie nur funktioniert, wie ein Rädchen mitläuft, sondern selbstbestimmt und |
| 34 | | selbstbewuBt lebt. |
7 | 35 | | Die Gymnasien verstanden sich im 19. Jahrhundert als Hort der Bildung - aber |
| 36 | | schon im letzten Drittel des Jahrhunderts geriet, wie eine jüngst veröffentlichte Studie des |
| 37 | | Siegener Germanisten Georg Bollenbeek zeigt, die Vorstellung von Bildung in MiBkredit. |
| 38 | | Gegen die ursprünglichen Absichten der Philosophen, die einst den Begriff ausgefüllt |
| 39 | | hatten, hatte man es in der politischen Umsetzung der Bildungsidee unterlassen, |
| 40 | | Naturwissenschaft, Technik und Politik in die Organisation der Allgemeinbildung |
| 41 | | hineinzunehmen. Bildung war lange Zeit im 19. Jahrhundert gleichbedeutend mit der |
| 42 | | Kenntnis der Alten Sprachen und der antiken Kultur, der »Klassiker« eben, geworden. |
| 43 | | Bildung und Leben gerieten in einen Gegensatz. |
8 | 44 | | Und heute? Gilt Bildung nichts mehr? Nun, wenn man unter Bildung nur die |
| 45 | | Kenntnis der Klassiker versteht, wenn man damit ausschlieBlich das Beherrschen der |
| 46 | | Alten Sprachen Hebräisch, Griechisch, Latein meint; wenn man als gebildet denjenigen |
| 47 | | versteht, der wie ein Lexikon (oder eine CD-Rom) von allem etwas weiB; wenn man |
| 48 | | darunter jemanden versteht, der glaubt, er verfüge über die Lösungen für alle Probleme |
| 49 | | oder auch nur f ür die Schlüsselprobleme - dann hat jede dieser Vorstellungen es schwer, |
| 50 | | sich gegen die Kritik Nietzsches und seiner Nachfolger zu behaupten. Wissen allein, |
| 51 | | Höflichkeit allein, gute Umgangsformen allein sind heute kein Zeichen von Bildung mehr. |
| 52 | | Niemand verfügt heute über eine Deutung der Welt, die allumfassend ist. Niemand hat |
| 53 | | mehr einen Begriff vom Ganzen - oder auch nur vom Wesentlichen. So muB man sich |
| 54 | | heute wieder auf die frühere Auffassung von Bildung zurückbesinnen: Bildung wäre |
| 55 | | nunmehr zu verstehen als die Fähigkeit, die Welt selbständig zu erkennen und sich in ihr |
| 56 | | zurechtzufinden. Dazu gehört es sicherlich, sich emsthaft mit den anstehenden Problemen |
| 57 | | der Welt zu beschäftigen - sei es die Gentechnik, der Umweltschutz, die Multikulturalität, |
| 58 | | die Kunst, die groBe Politik oder sei es die Sanierung des eigenen Stadtteils, die Erhaltung |
| 59 | | von Lebensqualität in der näheren Umwelt. Aber diese Kenntnisse, dieses Wissen reicht |
| 60 | | allein nicht aus. Gebildet ist nur der, der es versteht, sich verantwortungsvoll und wertend |
| 61 | | zu den anstehenden Zeitfragen zu verhalten. Und wer schlieBlich , nach einem eigenen |
| 62 | | Urteil, sittlich zu handeln vermag. |