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Bildung

Was ist eigentlich »Bildung«?

Anmerkungen zu einem Buch von Georg Bollenbeek: »Bildung und Kulture
11    Wer hörte es schon gerne, wenn man van ihm sagte, er sei »ungebildet«? Und ei ne
2 »gebilde te Frau- - ist das nicht wie ein Adelsprädikat? Dabei kann das Wort Bildungund
3 die Vorstellung, die sich hinter diesem Wort verbirgt - noch nicht auf eine lange
4 Geschichte zurückblicken.
25    Die Hochschätzung der »Bildung- ist in ihrer Entstehung an das soziale Erstarken
6 einer bestimmten Bevölkerungsschicht gebunden: an das Bürgertum. Und zwar, um es
7 noch genauer zu sagen: an das Bürgertum im deutschen Sprachbereich.
38    Im 18. Jahrhundert war damit etwas Unerhörtes, Neues,ja Revolutionäres gefordert.
9 Bis dahin hatte nämlich jeder Stand seine eigene Vorstellung darüber, wann jemand »gut
10 erzogen- war. Aus einem adeligen Kind hatte ein »höfliche r Mensch- zu werden, also sa,
11 daß es sich »am Hofe« recht betragen konnte. Ein Handwerkerkind hatte »zü nftig- zu
12 werden: Gilden, Innungen ader Zünfte legt en fest , was sie darunter verstanden. In Klosteroder
13 Domschulen orientierte man sich an antiken ader christlichen Texten. Beim
14 »einfachen Volk- lehrten Sitten und Gebräuche die Kinder Mores.
415    Aber mit der Erkenntnis, daß alle Menschen Brüder ader Schwestern und da Bsie
16 gleich geboren sind, fand die Vorstellung eine r standesgemäBen Erziehung kaum noch
17 allgemeine Zustimmung. Vielmehr folgerte man aus dem Gleichheitsgrundsatz, der Basis
18 der Menschenrechte, daß man »Alle alles auf allseitige Weise - lehren müsse. Sa hatte es
19 im 17. Jahrhundert schon Comenius formuliert. Das Ziel einer allumfassenden Bildung
20 war nicht der standesbewuBte Zeitgenosse, nicht der Gelehrte, sondern »der Gebildete«,
521    Besonders die Autaren der deutschen Klassik haben den Begriff »Bildung- mit
22 Leben aufgefüllt. Johann Gottfried Herder spricht es in einer 1788 gehaltenen Schulrede,
23 die »Vorn Zwecke der eingeführten Schulverbesserung« handelt, aus: »Menschen sind wir
24 eher, als wir Professionisten werden, und wehe uns, wenn wir nicht auch in unserem
25 künftigen Beruf Menschen blieben!-
626    Zum Staatsbürger könne man erziehen, zum Fachmann könne man durch
27 Unterricht ader gar Schulung werden - aber Bildung meine den ganzen Menschen. Und sa
28 solI seit Wilhelm van Humboldt das Ziel der Schulen nicht eine Erziehung zum Untertan
29 ader eine Ausbildung zum Beruf sein, sondern die Schule salIe »Bild ung- ermöglichen, das
30 heiBt , den Menschen dazu fähig machen, sieh selbst zu bestimmen. Die Schulen sind nicht
31 länger Standes- ader Berufsschulen; sie werden »allgerneinbildende Schulen«. Alle
32 Anlagen des Menschen sollen in ihm herausgebildet werden, eben damit er nicht in einer
33 Staatsmaschinerie nur funktioniert, wie ein Rädchen mitläuft, sondern selbstbestimmt und
34 selbstbewuBt lebt.
735    Die Gymnasien verstanden sich im 19. Jahrhundert als Hort der Bildung - aber
36 schon im letzten Drittel des Jahrhunderts geriet, wie eine jüngst veröffentlichte Studie des
37 Siegener Germanisten Georg Bollenbeek zeigt, die Vorstellung von Bildung in MiBkredit.
38 Gegen die ursprünglichen Absichten der Philosophen, die einst den Begriff ausgefüllt
39 hatten, hatte man es in der politischen Umsetzung der Bildungsidee unterlassen,
40 Naturwissenschaft, Technik und Politik in die Organisation der Allgemeinbildung
41 hineinzunehmen. Bildung war lange Zeit im 19. Jahrhundert gleichbedeutend mit der
42 Kenntnis der Alten Sprachen und der antiken Kultur, der »Klassiker« eben, geworden.
43 Bildung und Leben gerieten in einen Gegensatz.
844    Und heute? Gilt Bildung nichts mehr? Nun, wenn man unter Bildung nur die
45 Kenntnis der Klassiker versteht, wenn man damit ausschlieBlich das Beherrschen der
46 Alten Sprachen Hebräisch, Griechisch, Latein meint; wenn man als gebildet denjenigen
47 versteht, der wie ein Lexikon (oder eine CD-Rom) von allem etwas weiB; wenn man
48 darunter jemanden versteht, der glaubt, er verfüge über die Lösungen für alle Probleme
49 oder auch nur f ür die Schlüsselprobleme - dann hat jede dieser Vorstellungen es schwer,
50 sich gegen die Kritik Nietzsches und seiner Nachfolger zu behaupten. Wissen allein,
51 Höflichkeit allein, gute Umgangsformen allein sind heute kein Zeichen von Bildung mehr.
52 Niemand verfügt heute über eine Deutung der Welt, die allumfassend ist. Niemand hat
53 mehr einen Begriff vom Ganzen - oder auch nur vom Wesentlichen. So muB man sich
54 heute wieder auf die frühere Auffassung von Bildung zurückbesinnen: Bildung wäre
55 nunmehr zu verstehen als die Fähigkeit, die Welt selbständig zu erkennen und sich in ihr
56 zurechtzufinden. Dazu gehört es sicherlich, sich emsthaft mit den anstehenden Problemen
57 der Welt zu beschäftigen - sei es die Gentechnik, der Umweltschutz, die Multikulturalität,
58 die Kunst, die groBe Politik oder sei es die Sanierung des eigenen Stadtteils, die Erhaltung
59 von Lebensqualität in der näheren Umwelt. Aber diese Kenntnisse, dieses Wissen reicht
60 allein nicht aus. Gebildet ist nur der, der es versteht, sich verantwortungsvoll und wertend
61 zu den anstehenden Zeitfragen zu verhalten. Und wer schlieBlich , nach einem eigenen
62 Urteil, sittlich zu handeln vermag.
Volker Ladenthin, in: Süddeutsche Zeitung, 4.15.2.1995