1 | 1 | Um Staatspräsident zu werden, hat Jacques Chirac im Wahlkampf den Eindruck | |
2 | erweckt, er kenne die Zauberformel, die Arbeitsplätze schafft und soziale Not | ||
3 | verschwinden läBt. Nach Tische sieht er's anders: Getäuscht habe er sich , lieB er das | ||
4 | Fernsehvolk wissen. Nicht der Aufbruch zu den Ufern neuen Wohlstands stünde an, | ||
5 | sondern nur die rigorose Konsolidierung des Staatshaushaltes. | ||
2 | 6 | Das Stück kennen wir auch aus dem heimisehen Spielplan. Als die deutsche | |
7 | Vereinigung anstand, hat Helrnut Kohl kaum Fehler gemacht - mit einer Ausnahme: Er | ||
8 | hat das Vermögen der Menschen, auch unangenehme Wahrheiten zur Kenntnis zu | ||
9 | nehmen, unterschätzt und das schnelle Erblühen der östlichen Landschaften in Aussicht | ||
10 | gestellt. Immer erst dann, wenn es gar nicht mehr anders ging, kam die weniger | ||
11 | angenehme Wahrheit ans Licht. | ||
3 | 12 | Von Tag zu Tag wird es spürbarer: Ein scharfer Wind beginnt durch die Gemäuer des | |
13 | Sozial- und Wohlfahrtsstaates zu pfeifen, und bald schon droht er zum Sturm zu werden. | ||
14 | Abschnitt für Abschnitt werden die Segnungen der letzten Jahrzehnte und Jahre überprüft | ||
15 | werden, und vieles wird dem nicht standhalten. Und erst im allerletzten Moment wird | ||
16 | denen, die es betrifft, reiner Wein eingeschenkt. | ||
4 | 17 | Es heißt, in Demokratien ginge das nun einmal nicht anders. Denn gewählt werde | |
18 | nur, wer immer mehr und immer gröBere Früchte verspricht. Das klingt realistisch, ist aber • | ||
19 | zynisch und wird dem, was Menschen vermögen, nicht gerecht. Wer glaubt, nur die Macht | ||
20 | des Faktischen - nachprüfbar leere Kassen, unwiderruflich zerstörte Wälder und reale | ||
21 | Katastrophen - könne in demokratischen Gesellschaften politische Korrekturen bewirken, | ||
22 | unterschätzt die Bürger und nimmt sie als solche nicht ernst. Er hält sie nicht für | ||
23 | einsichtsfähige Wesen, sondern für reflexartig reagierende Androiden, die ganz und gar im | ||
24 | Horizont des materiellen Wohlergehens befangen sind. | ||
5 | 25 | Dieses materialistische Vorurteil hat seine Geschichte - im marxistischen | |
26 | Heilsprogramm war es ebenso enthalten wie im Konsumversprechen westlicher | ||
27 | Industriegesellschaften. Mehr vom gleichen: Das war das Programm, das in Zeiten reaier | ||
28 | oder erträumter Prosperität so plausibel, so realistisch, so unausweichlich schien. Darüber | ||
29 | wurde jedoch vergessen, daß es auch anders geht. Und vor allem: daB die Menschen auf | ||
30 | anderes gerüstet sind. | ||
6 | 31 | Es war ein unreifer Traum der Moderne, Schmerz und Unglück lieBen sich aus einer | |
32 | zu Spielplatz und Schlaraffenland gewordenen Welt verbannen. Die Wirklichkeit sah stets | ||
33 | anders aus, und das wissen auch alle. Menschen haben weit gröBere Erfahrungen im | ||
34 | Umgang mit Unerfreulichem als mit Erfreulichem. Es entmündigt und miBachtet sie, wer | ||
35 | meint, ihnen bittere Wahrheiten nur in homöopathischen Dosen beibringen zu können. | ||
7 | 36 | Und er schadet der Demokratie und ihren Institutionen. Eine politische Klasse, die | |
37 | sich vornehmlich des Füllhorns bedient, darf sich nicht wundern, wenn das den Bürgern | ||
38 | allmählich zur zweiten Natur wird und sie sich als Abonnenten von Wohlstandslieferungen | ||
39 | verstehen. Eine aufVersorgung angelegte Politik schadet dem Gemeinwesen, trocknet den | ||
40 | politischen Raum aus und zerstört den Gemeinwillen, den die Demokratie braucht, weil | ||
41 | sie nicht nur von oben, sondern auch von unten her funktionieren muB . | ||
8 | 42 | Kein Zweifel, die Kassen sind ziemlich leer, die Renten nicht sicher und Arbeit für | |
43 | alle schwer zu beschaffen. Jedem geht es besser, keinem geht es schlechter: Die alte | ||
44 | Spielregel gilt nicht mehr, das Fest einer scheinbar von selbst laufenden wirtschaftlichen | ||
45 | Dynamik ist vorbei. Im geflissentlichen Übersehen dieser unabweisbaren Realität spielen | ||
46 | sich Politiker und Bürger, Institutionen und Gesellschaft oft genug gegenseitig die Bälle | ||
47 | zu. Die Politiker verweisen achselzuckend auf die Versorgungsgier der Bürger, und sie | ||
48 | haben recht damit. Die Bürger verweisen sich selbst entschuldigend auf die bisherige | ||
49 | Unfähigkeit der Poli tik, einen ordnungspolitischen Rahmen für die Zeit nach dem irdischen | ||
50 | Paradies zu schaffen, und auch sie haben recht damit. So bleibt dann alles beim alten. | ||
9 | 51 | Die Industriegesellschaft wird, so oder so, nach ökologischen MaBgaben umgebaut | |
52 | werden müssen. Der Sozialstaat wird, so oder so, um- und im Klartext: auch zurückgebaut | ||
53 | werden müssen. Es wäre eine unverantwortliche Überspitzung, neue Lebensqualitäten des | ||
54 | Verzichts, gar der Askese in Aussicht zu stellen, die den Vorzügen der alten | ||
55 | Wohlstandsgesellschaft überlegen und daher auch attraktiver wären. Der Umbau wird | ||
56 | schmerzhaft sein - doch er könnte auch zu einem spannenden gesellschaftlichen ProzeB | ||
57 | geraten. | ||
10 | 58 | Also die Mobilisierung der alten, üblen Volksgemeinschaft? Eiapopeia statt | |
59 | Realien? Keineswegs. Gerade weil der Umbau, in Zeiten endlicher Mittel notwendig | ||
60 | geworden, van der Politik alle in nicht mehr bewerkstelligt werden kann, eröffnet er der | ||
61 | Bürgergesellschaft neue Chancen der Einmischung. Nur mit breiter Bereitschaft zu Selbstund | ||
62 | Nächstenhilfe werden die anstehenden Reformen ohne gesellschaftliche | ||
63 | Erschütterungen durchführbar sein: die der Renten wie die der Pflegepolitik. | ||
11 | 64 | Es geht um eine neue Balance zwischen Individualisrnus und Gemeinschaft, | |
65 | zwischen Selbstverwirklichung und Verantwortung. Das eine klingt unseren Ohren | ||
66 | modern, das andere verstaubt. Die Balance zwischen beiden wäre jedoch ein unerhört | ||
67 | neues Vorhaben. Es erfordert Intelligenz und Bereitschaft zum Sparen, es erfordert | ||
68 | Verzicht und Phantasie, Bürgersinn und eine Politik, die sich nicht hinter dem Bild | ||
69 | versteekt, das sie sich van den Wählern gemacht hat. |