1 | 1 | | Der Glaube an die allgemeine Wehrpflicht, die Überzeugung von ihrem tiefen Sinn, |
| 2 | | die Ehrfurcht vor ihr reichten weiter als die traditionellen Religionen. Wer sich ausschloss, |
| 3 | | war kein Deutscher. Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war |
| 4 | | mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Lande der Welt |
| 5 | | ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der |
| 6 | | aufrechtstehenden bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllen das Herz des Deutschen mit |
| 7 | | tiefer und geheimnisvoller Freude. Die waldkranken bäume sind aber ebenso ins |
| 8 | | Schwanken geraten wie die disziplinkranken Kameraden. Doch eins ist bei der |
| 9 | | bundesdeutschen Wehrpflicht noch wie beim urdeutschen Wald: Der Mythos lebt. Die |
| 10 | | Wehrpflicht-Armee ist »gelebter Patriotismus« sagt etwa unser Kanzler, der offenbar |
| 11 | | lange keine Kaserne mehr besucht hat. |
2 | 12 | | Und der Mythos muss weiterleben, wegen, nicht etwa trotz der finanziellen |
| 13 | | Probleme. Denn einige Millionen oder Milliarden für die Armee sind allemal |
| 14 | | zusammenzukratzen; die Milliarden aber, die nötig wären, um - ohne eine grundlegende |
| 15 | | Reform des Sozialsystems - die Sozialarbeit der Zivildienstleistenden von teuren Profis |
| 16 | | erledigen zu lassen, gäben auch die vereinigten Haushaltsverstecke nicht her. Also wird |
| 17 | | der Mythos Wehrpflicht weitergehätschelt. Der Kanzler plädiert unter beschwörung des |
| 18 | | »gelebten Patriotismus« entschieden für die Fortführung der Wehrpflicht, sogar für eine |
| 19 | | Ausweitung auf die Frauen, falls dies verfassungsrechtlich geboten sei . Und die FDP |
| 20 | | kämpft schon gegen das »letzte geschlechtsspezifische beschäftigungsverbot«. Daß die |
| 21 | | Wehrpflicht jetzt schon mit Gleichberechtigungsargumenten aus der Arbeitswelt verteidigt |
| 22 | | wird, zeigt, daß die echten Argumente pro Wehrpflicht spätestens mit dem |
| 23 | | Zusammenbruch des Ostblocks fadenscheinig geworden sind. |
3 | 24 | | Dabei ist der Wehrdienst »ein tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit«, seine |
| 25 | | »beibehaltung, Abschaffung und Dauer sind deshalb sicherheitspolitisch zu begründen«, |
| 26 | | so der Ex-Verfassungsgerichtspräsident und jetzige bundespräsident Roman Herzag. |
| 27 | | Doch militärisch ist die allgemeine Wehrpflicht nicht mehr zu begründen. Die bedrohung |
| 28 | | ist Geschichte. Die »Horden aus dem Osten« schrecken uns nicht mehr, wie es Frankreichs |
| 29 | | Staatspräsident Chirac plastisch ausdrückte, als er sich unlängst gegen die Wehrpflicht |
| 30 | | entschied. Die Krisenreaktionskräfte der bundeswehr sind ohnehin für Freiwillige |
| 31 | | reserviert, und das verbleibende Grundgerüst der Streitkräfte ist schon wegen der |
| 32 | | Hochtechnologie im Waffenbereich effizienter mit Längerdienenden zu bestücken. Die |
| 33 | | USA, Grobbritannien, belgien und die Niederlande etwa sind deswegen schon auf eine |
| 34 | | berufsarmee umgestiegen, für Rubland hat Präsident Jelzin bereits ein entsprechendes |
| 35 | | Dekret unterschrieben. |
4 | 36 | | Auch wirtschaftliche Gründe sprechen trotz der »billigen Arbeitskraft« nicht für die |
| 37 | | Wehrpflicht. »Die Forderung, die allgemeine Wehrpflicht auch in einer friedens- und |
| 38 | | sicherheitspolitisch völlig geänderten Lage beizubehalten, verletzt elementare |
| 39 | | ökonomische Erkenntnisse«, heißt es in einer Denkschrift von Wirtschaftsprofessoren der |
| 40 | | Universität der bundeswehr in Hamburg. Ihre Schlubfolgerung: »Aus ökonomischer Sicht |
| 41 | | ist zu erwarten, daß eine berufsarmee weit geringere Opportunitätskosten verursacht als |
| 42 | | jedes andere Rekrutierungssystem.« |
5 | 43 | | Eines könnte in unserer jungen Demokratie die Wehrpflicht über alles |
| 44 | | Ökonomische und Militärische hinaus rechtfertigen: der Geist der Truppe. »Rambos und |
| 45 | | Legionärstypen« drängten in eine berufsarmee, so die befürchtung von |
| 46 | | bundesverteidigungsminister Volker R ühe, Die Wehrpflichtigen als zivilisierendes |
| 47 | | Element, als Einfallstor der Demokratie in die autoritäre binnenwelt der Soldaten? |
6 | 48 | | Eine interne Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der bundeswehr |
| 49 | | warnt vor der »Gefahr, daß die bundeswehr zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die |
| 50 | | den demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind. Die |
| 51 | | bundeswehr steht vor dem Problem, daß sie in erster Linie für jene jungen Männer |
| 52 | | attraktiv ist, die man als Modernitätsverlierer charakterisieren könnte«, heibt es dort, »die |
| 53 | | jungen Rechten konstruieren im Rückgriff auf die Vergangenheit, den |
| 54 | | Nationalsozialismus, eine Analogie zwischen ihren eigenen autoritären Strukturen und |
| 55 | | denen der bundeswehr.« |
7 | 56 | | Doch dies alles hat sich ja trotz Wehrpflicht so stramm entwickelt. »Die jungen |
| 57 | | Wehrpflichtigen, die nur den äubersten Rand der bundeswehr berühren, bewirken nicht |
| 58 | | den leisesten Hauch gesellschaftlicher Zugluft für den harten Kern des Profikorps; die |
| 59 | | zivile Wertorientierung dringt nicht in die gefestigte Welt der unverbrüchlichen |
| 60 | | soldatischen Tugenden«, beschreibt dies einer der Intellektuellen in Uniform, der ExAdmiral |
| 61 | | Elmar Schmähling, »das idealisierte bild von der bürgerarmee stimmt also gar |
| 62 | | nicht.« |
8 | 63 | | Die Wehrpflicht in ihrer jetzigen Praxis unterhöhlt auch das Rechts- und |
| 64 | | Verfassungsverständnis. Die Zustände bei der Anerkennung von Wehrdienstverweigerern |
| 65 | | sind bekannt: Postkarte genügt. Auf der einen Seite eine elementare Grundpflicht notfalls |
| 66 | | das Leben zu opfern - und ein elementares Grundrecht - das eigene Gewissen |
| 67 | | höher zu setzen als das Leben anderer -, auf der anderen Seite genau der |
| 68 | | »Massenverschleib des Gewissens«, den Theodor Heuss schon 1949 bei der beratung des |
| 69 | | Grundgesetzes prophezeite. Nein: bundesrepublik und bundeswehr brauchen die |
| 70 | | allgemeine Wehrpflicht nicht. |