1 | 1 | | Haben die Jugendlichen im Osten Deutschlands das FDJ-Hemd (5) nur |
| 2 | | vorübergehend gegen die Bomberjacke getauscht, um sich demnächst wieder ein |
| 3 | | Braunhemd anzuziehen? Mancher besorgte Beobachter sieht in den Gewalttätern von |
| 4 | | Hoyerswerda und Rosrock-Lichtenhagen potentielle SA-Männer eines zukünftigen |
| 5 | | neonazistisch geprägten Deutschlands. Für viele Zeitgenossen ist die Sache eindeutig: Der |
| 6 | | rasche Umbruch sowie eine Sinn- und Orientierungskrise als Hinterlassenschaft des |
| 7 | | paternalistischen SED-Regimes, gepaart mit drohender oder bereits eingetretener |
| 8 | | Arbeitslosigkeit, hätten in den neuen Bundesländern eine solche Verunsicherung |
| 9 | | geschaffen, daß die Hinwendung zum Rechtsradikalismus die geradezu natürliche Folge |
| 10 | | sei. Doch sind die Jugendlichen in Ostdeutschland wirklich im rechtsextremen Sinne |
| 11 | | ideologisiert? |
2 | 12 | | Die Forschungsstelle Sozialanalysen Leipzig hat Sachsen im Alter von 14 bis 25 |
| 13 | | Jahren zu ihrer politischen Einstellung befragt. Darüber berichten Peter Förster und |
| 14 | | Walter Friedrich in der Wochenzeitung »Das Parlament«. Zunächst sei festzuhalten, daß |
| 15 | | die politische Standortbestimmung der Befragten überraschend unverbindlich und vage |
| 16 | | erscheint: »Die Identifizierung mit linken oder rechten Positionen ist ein informeller |
| 17 | | Vorgang. Er wächst aus dem Alltagsleben heraus, ist an keine formelle Anerkennung von |
| 18 | | Parteien, Programmen, Politikern oder Jugendverbänden gebunden, bedarf keiner |
| 19 | | Beitrittsrituale, Satzungsdiskussionen oder anderer Verpflichtungen.« |
3 | 20 | | Noch erstaunlicher ist jedoch, daß das Selbstgefühl der vorwiegend rechts |
| 21 | | orientierten Jugendlichen keineswegs so krisenhaft zu sein scheint, wie gemeinhin |
| 22 | | angenommen wird. Von Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst ist in ihren Antworten |
| 23 | | jedenfalls wenig die Rede. Vielmehr besäßen die jungen Rechten, deren Anteil bei |
| 24 | | Hauptschülern unter zwanzig besonders hoch ist , ein »aktives und offenes Verhältnis zur |
| 25 | | Welt, geben sich insgesamt selbstbewußter, risikofreudiger, optimistischer, |
| 26 | | draufgängerischer als die links Orientierten.« |
4 | 27 | | Fremdenfeindlichkeit und Gewalttätigkeit beruhen also - zumindest bei den |
| 28 | | Jüngeren - anscheinend nicht auf einer »frustrierten Existenz«, die meist bei Vertretern |
| 29 | | rechtsextremer Positionen zu finden ist. Wie soll man aber dann die Eskalation von |
| 30 | | Gewalt deuten? Einer Erklärung des Phänomens kommt der Schriftsteller Rolf Schneider |
| 31 | | näher, der zunehmende Brutalisierung und Xenophobie auch in Westdeutschland |
| 32 | | ausmacht und zu bedenken gibt: »Der Konfliktstoff, der in Rostock zur Explosion gedieh, |
| 33 | | ist in jeder westdeutschen Großstadt mit Asylantenheim und sozialer Problemzone |
| 34 | | gleichermaßen gegeben. Wenn sich die Ausschreitungen derzeit immer wieder in den fünf |
| 35 | | neuen Bundesländern ereignen ( . ..), so hat dies wohl mit der Abwesenheit |
| 36 | | funktionierender Sicherheitsstrukturen zu tun.« |
5 | 37 | | Darüber hinaus macht sich dort auf verhängnisvolle Weise ein allgemeiner |
| 38 | | Autoritätsschwund bemerkbar. Die radikalisierten Jugendlichen profitieren von der |
| 39 | | Verunsicherung der älteren Generation. Das fängt schon zu Hause an. Eltern trauten sich |
| 40 | | nicht mehr zu verbieten, und zwar aus gutem Grund, konstatiert der junge Berliner |
| 41 | | Soziologe Sighard Neckel im »Merkur«: »Die Erwachsenen haben eine merkwürdige |
| 42 | | Furcht vor dem Nachwuchs, fast so, als ob sie im stillen genau wüßten, wozu er fähig ist , |
| 43 | | weil sie sich selbst kennen. Die Zügellosigkeit ist ihnen vertraut, obwohl sie sie nie gelebt |
| 44 | | haben, der Haß und die brutale Geste auch. Daß die Neger und Fidschis das |
| 45 | | abbekommen, versteht sich hier mittlerweile beinahe von selbst.« |
6 | 46 | | Da diese Erwachsenen sich durch Anpassung und Opportunismus im Unrechtsstaat |
| 47 | | DDR eingerichtet und zu allen seinen Verbrechen geschwiegen hätten, sprächen die |
| 48 | | Söhne und Töchter ihren Erzeugern jetzt die Legitimation ab, ihnen moralische Vorwürfe |
| 49 | | zu machen. |
7 | 50 | | Doch nicht nur Eltern und Erzieher scheuten sich , den brutalisierten Jugendlichen |
| 51 | | Widerstand entgegenzusetzen. Vielleicht noch schlimmer sei es, daß auch Politiker sich |
| 52 | | zunehmend auf ein fragwürdiges »soziologisches Verstehen« verlegten oder ausweichend |
| 53 | | von »Vereinigungsschäden« redeten, meint Thomas Schmid in der Oktober-Nummer der |
| 54 | | »Blätter für deutsche und internationale Politik«: »Die politische Klasse reagiert nicht |
| 55 | | standfest, sondern nur mit schlechtem Gewissen: sie gibt (wenn auch nur pro forma) nach.« |
| 56 | | Die politische Klasse habe offensichtlich Angst vor der Bevölkerung der fünf neuen |
| 57 | | Länder. Daher versäume sie es, mit Härte die Prinzipien des Rechtsstaats zu verteidigen. |
| 58 | | Falsch verstandene Rücksichtnahme hindere sie, die lange Zeit Unterdrückten aufs neue |
| 59 | | zu maßregeln, wobei sie übersehe, daß das Bestehen auf demokratischem Wohlverhalten |
| 60 | | etwas anderes ist als die autoritäre Gängelung im Sozialismus. |
8 | 61 | | Den Trend westdeutscher Jugendlicher zu Brutalität und martialischen Riten im |
| 62 | | Auge, gelangt Annette Steeck-Fischer in der Zeitschrift »Psyche« zu dem Schluß, |
| 63 | | insbesondere männliche Jugendliche in Ost wie West seien gegenwärtig »geil auf Gewalt«. |
| 64 | | Ihr Fasziniertsein durch Bomberjacken, Springerstiefel, »harte« Lederware und |
| 65 | | kriegerische Accessoires, ihre Vorliebe für Musikgruppen, die mit einpeitschenden |
| 66 | | Rhythmen Dauer-Aggressivität verbreiten, nicht zuletzt der ungeheure Erfolg von Filmen |
| 67 | | wie »Terminator« und »Universal Soldier«, wo muskelbepackte Machos aufeinander |
| 68 | | losschlagen: das alles belege die labile männliche Identität der Verherrlicher von Gewalt |
| 69 | | und habe mit dem Prozeß des Heranwachsens zu tun. Aber der sei irgendwann |
| 70 | | abgeschlossen. Oft reiche schon aus, »daß eine Freundin plötzlich wie ein Blitz in die |
| 71 | | ängstlich-enge Vorurteilswelt fährt und sie ziemlich schnell auflöst«. Doch was passiert, |
| 72 | | wenn die Freundin, möglicherweise ebenso schnell, aus dem Leben des jungen Mannes |
| 73 | | wieder verschwindet? Wird dieser Verlust die Zweifel an der eigenen Männlichkeit nicht |
| 74 | | eher weiter verstärken? Vieles spricht dafür, daß auch der erwachsene Mann |
| 75 | | Schwierigkeiten mit seiner männlichen Identität haben wird und daß Panzerung mit |
| 76 | | Brutalität ihm auch später noch als probates Mittel zur Kompensierung von |
| 77 | | Schwächegefühlen erscheinen wird. |
noot 5
FDJ: Freie Deutsche Jugend; die FDJ war ein Verband für Jugendliche ab 14 Jahren in der
ehemaligen DDR