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Tabu und Technik

Tabu und Technik

11    Viel wird darüber diskutiert, ob die Menschen unserer Tage technikfeindlich seien
2 oder nicht. Wie immer bei Erörterungen allzu allgemein gestellter Fragen lassen sich auch
3 bei dieser Indizien sowohl für die eine als auch für die andere Alternative beibringen. Die
4 Kernkraft wird, wie vor kurzem eine Umfrage ergeben haben soll, von einer großen
5 Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Ist das Volk deshalb technikfeindlich? Oder ist es
6 der Technik zugetan, weil Videorecorder oder Computer heute wesentlich rascher
7 akzeptiert werden als etwa der elektrische Kühlschrank oder der Thermostat zur Zeit
8 ihrer Markteinführung?
29    Die amerikanische Anthropologin Margaret Mead hat uns gelehrt: Wer nach
10 Indikatoren für Grundstimmungen in der Bevölkerung sucht, sollte nach ihren Tabus
11 fragen. Gibt es denn noch Tabus in der aufgeklärten Modemen Industriegesellschaft? Ia,
12 zum Beispiel in unseren Medien: Beliebt sind im Fernsehen Sendungen über das
13 Verhalten von Tieren. Der Zuschauer möchte die Schönheit der Tiere bewunden, sich an
14 ihren Possierlichkeiten ergötzen, ihre Fähigkeiten bestaunen und 50 manche
15 Absonderlichkeit in ihrem Verhalten verstehen lernen. Doch der Fernsehredakteur mag
16 es dabei nicht bewenden lassen. Ihm fehlt die »kritische Disranz«. Er ist mit einem solchen
17 Programm erst zufrieden, wenn es uns zugleich eindringlich daran erinnert, daß wir
18 Menschen all das Wunderbare der Natur mit unserer Technik verderben - die süßen
19 Ährchen sind vom Aussterben bedroht, die Wälder sterben, die Flüsse werden vergiftet ....
20 Das Tabu lautet: Natur darf nicht ohne den Hinweis auf unsere Sunden wider sie
21 beschrieben werden.
322    In Zeitungsredaktionen wird der Teil eines Artikels, in dem dieses Tabu befolgt
23 wird, der »Ökoschwanze genannt. Die Verfasser der einsch1ägigen Beiträge, die ihn
24 übrigens stets ungefragt mitliefern, würden sehr böse, wenn es der Redakteur wagte, ihnen
25 den Ökoschwanz herauszustreichen. Denn nichts befürchtet der Zeitgenosse so sehr wie
26 den Verdacht, onkritisch zu sein.
427    Der Ökoschwanz ist nur eine von vielen Litaneien, die wir in den Medien singen,
28 damit nur ja niemand auf den Gedanken kommt, es könne in unserer Zeit irgendeinen
29 Fortschritt geben.
530    Tabuisiert ist in den Medien auch die Kernenergie. Sie darf nur noch verteufelt
31 werden. Selbst Befürworter dieser Technik befleißigen sich zu betonen, daß sie »leider
32 derzeit noch unentbehrliche sei. Manch einer mag dies ehrlich meinen, vielfach aber
33 dürfte es nichts anderes sein als eine Floskel, ein modernes »Gott behüte« das unsere
34 Großeltern anzufügen pflegten, wenn sie im Gespräch ein Tabu berührt hatten.
635    Überall erscheinen in letzter Zeit Artikel über die drohende Klimakatastrophe. Die
36 Verfasser, oft solide Kenner der Materie, verstehen es zumeist, uns die Gefahren drastisch
37 zu schildern, die wir heraufbeschwören, wenn wir fortfahren, mit Kohle-, Gas- und
38 Ölkraftwerken Kohlendioxid zu produzieren. Wir müßten, so die Empfehlung, so schnell
39 wie irgend möglich auf alternative Energiequellen umsteigen. Jeder Leser solcher Beiträge
40 kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie es denn im Hinblick auf den Klimaschock mit der
41 Atomkraft bestellt sei. Natürlich wissen die Autoren die Antwort darauf; nämlich daß die
42 Kernenergie die einzige zur Zeit praktikable Alternative ist. Aber sie wagen dies nicht zu
43 schreiben, trauen sich nicht, das Tabu zu verletzen.
744    Daß Technik böse Folgen haben kann, wer wüßte es nicht, und wer wäre nicht dafür,
45 sie rechtzeitig zu erkennen und zu verhüten. Beklagenswert ist dabei nur unsere fatale
46 Neigung, solche vernünftigen Einsichten in Ideologie umzumünzen. Sie führt zur
47 Tabuisierung der Themen, die fortan dem rationalen Denken entzogen sind. Niemand
48 fragt danach, warum man eigentlich nicht nackt spazieren gehen oder bestimmte Wörter
49 nicht benutzen soll. Tabus werden nicht hinterfragt. Aber Tabus schleifen sich ab. Plötzlich
50 wird es schick, nackt durch den Englischen Garten zu flitzen, und was wäre ein
51 zeitgenössischer Theaterdialog ohne Tabu-Wörter?
852    Das Abschleifen der Modemen Tabus spüren wir deutlich. In sogenannten
53 Copytests haben Befragungen ergeben, daß der Ökoschwanz in der Zeitung so gut wie nie
54 gelesen wird. Er ist den Leuten so langweilig vertraut wie das Glockenläuten am Sonntag,
55 dessen ursprüngliche Bedeutung, die Mahnung an den Kirchgang, fast niemanden mehr
56 berührt. Kaum anders wird es den Freunden der Tierfilme ergehen, die den Refrain vom
57 bösen Satan Technik gar nicht mehr wahrnehmen.
958    Was aber sagen uns die vom Zeitgeist auferlegten Tabus im Sinne Margaret Meads
59 über die gegenwärtig vorherrschende Grundbefindlichkeit? Technikfeindlich ist eine
60 Gesellschaft nicht, deren Küchen und Bade- und Arbeitszimmer mehr und mehr zu
61 Maschinenparks werden, die im Bewußtsein, daß weltweit Tag für Tag 2000 Menschen im
62 Straßenverkehr sterben müssen, ständig neue Rekorde bei den Neuzulassungen von
63 Automobilen erreicht. Technikfeindlich ist allenfalls unser Moralkodex, an den wir uns
64 aber nur halten, wenn wir andere Leute belehren - zum Beispiel in den Medien. Dieser
65 Kodex ist von einer ultrakonservativen Haltung geprägt, die jede technische Neuerung
66 zunächst einmal verteufelt, weil wir den Gedanken, Technik könne zuweilen etwas Gutes
67 bringen, als frevelhaften Irrglauben tabuisiert haben.

Die Zeit, 29.12.1989

noot 4 Romy Schneider, 1938 -1982, Schauspielerin