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Neuer Zank, neue Chance

Neuer Zank, neue Chance

11    Eigentlich kann gar nichts mehr schiefgehen - jeder ist für Umweltschutz: die
2 Regierung in Bonn, die nach den Worten von Bundeskanzler Helmut Kohl den
3 Umweltschutz zur zweitwichtigsten Aufgabe nach der Bewahrung des Friedens erkoren
4 hat; die Unternehmer, deren Sprecher sich ohne Zaudern zu ihrer ökologischen
5 Verantwortung bekennen; und nun auch die Gewerkschaften, die im Umweltschutz ein
6 neues Betätigungsfeld entdecken. Noch in diesem Jahr will die Gewerkschaft Nahrung
7 - Genuß - Gaststätten (NGG) mit den Arbeitgebern den ersten Öko-Tarifvertrag
8 abschließen. Bahnt sich da etwa eine konzertierte (1) Aktion der Vernunft für den Schutz
9 von Gesundheit, Luft, Wasser und Boden an? Oder wird bei den Tarifauseinandersetzungen
10 in Zukunft eine neue Konfliktfront eröffnet, neben dem Streit um Löhne und Arbeitszeit?
211    Die NGG will erreichen, daß jeder Arbeitnehmer für fünf Tage pro Jahr freigestellt
12 wird, um sich in Sachen Umwelt weiterbilden zu können. Außerdem soll jeder Betrieb
13 einen Umweltbeauftragten bekommen. Ein paritätischêl besetzter Umweltausschuß soll
14 zwischen Geschäftsleitung, Beschäftigten und Betriebsrat in Umweltfragen vermitteln,
15 und jeder solI sich über Umweltfrevel im Betrieb beschweren können, ohne Angst um
16 seinen Job haben zu müssen. Doch das ist erst der Anfang der neuen Debatte: Auch in
17 anderen Gewerkschaften, angeführt von IG Chemie und IG Metall, steht der
18 Umweltschutz hoch im Rang.
319    Was motiviert ausgerechnet die Gewerkschaften zu diesem Engagement, die in der
20 Vergangenheit nicht selten mit den Unternehmern solidarisch waren, wenn es
21 Arbeitsplätze gegen angeblich überzogene Umweltforderungen zu verteidigen galt?
22 Abgesehen davon, daB Arbeitnehmer von Schadstoffen aus Produktionsprozessen nicht
23 nur in ihrer Arbeitsumwelt gesundheitlich gefährdet werden, sondern gleichfalls in ihrer
24 außerbetrieblichen Lebenswelt, sind es vor allem zwei Beweggründe, die übrigens auch
25 den unternehmerischen Interessen entsprechen müßten:
26 ÃƒÂƒÃ‚ƒÃ‚¢Ã‚€Â¢ Das Bewußtsein, in einem Öko-Betrieb zu arbeiten, kann die Zufriedenheit, Motivation
27 und die Produktivität der Beschäftigten steigern.
28 ÃƒÂƒÃ‚ƒÃ‚¢Ã‚€Â¢ Wegen des weltweit wachsenden Umweltbewußtseins trägt die ökologische
29 Modernisierung der Betriebe zur langfristigen Sicherung von Arbeitsplätzen bei .
430    Zu Ende gedacht freilich, läuft das Öko-Engagement der Gewerkschaften nicht nur
31 auf mehr Information, sondern auch auf mehr Mitwirkungsrechte in den Betrieben hinaus.
32 Umweltschutz bedeutet nicht nur weniger Schadstoffemissionen und Abfall, er erfordert
33 zudem auch andere Produkte und Produktionsprozesse. Das erwachende Öko-Gewissen
34 der Gewerkschaften bedeutet folglich im Klartext: mehr Mitbestimmung. Deshalb
35 kündigen sich neue Konflikte an. Ihr Direktionsrecht über den Produktionsprozeß werden
36 sich die Arbeitgeber nicht leichtfertig abhandeln lassen.
537    Ohnehin haben Unternehmenssprecher den Umweltschutz längst zur »Chefsache«
38 erklärt. Denn jeder weiß: Ohne Rücksicht auf Umweltbelange gibt es kein Überleben,
39 auch nicht für die Betriebe. Das Problem ist nur, daß langfristige Überlebensinteressen
40 und kurzfristiges Gewinnstreben oft nicht zur Deckung zu bringen sind . Nicht selten
41 schrecken Investoren selbst vor Ausgaben zurück, beispielsweise zur Energieeinsparung,
42 die wirtschaftlich lohnend sind, deren Amortisationszeité! aber mehr als drei Jahre beträgt.
43 Mehr Mitwirkung der Betriebsangehörigen birgt deshalb zweifellos die Chance für mehr
44 Umweltschutz.
645    Wie ernst es den Gewerkschaften mit dem neuen Thema wirklich ist, müssen sie
46 freilich erst noch beweisen. Keine Frage: In der Regel kostet Umweltschutz mehr Geld,
47 folglich bleibt vom Produktionswert weniger übrig, das in Farm höherer Löhne oder
48 kürzerer Arbeitszeit verteilt werden kann. Nur wenn die Gewerkschaften in ihren
49 künftigen Forderungen auch das berücksichtigen, haben sie eine realistische Chance, den
50 Umweltschutz voranzutreiben.

Die Zeit, 24.1.1992

noot 1 konzertiert =afgesproken, op elkaar afgestemd
noot 2 paritätisch =paritair; op voet van gelijkheid staande, gelijkelijk vertegenwoordigd
noot 3 amortisieren =investeringen door opbrengsten terugverdienen