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Brot im Uberfluss und Spiele satt

Brot im Überfluß und Spiele satt

11    Kultur ist die Wachstumsbranche schlechthin. Die Gemeinden investieren in sie,
2 weil sie begriffen haben, daß ein Theaterfestival die effizienteste Form der Städtereklame
3 sein kann und daß die Subventionen nicht verloren sind, wenn man die nachkulturell
4 getrunkenen Biere und beschlafenen Betten mit einrechnet. Die Mäzene investieren in sie,
5 weil sie gemerkt haben, daß eine Ausstellung junger Künstler der Stadtsparkasse mehr
6 Ansehen einbringt als ein Foyer aus Marmor. Und der Bund investiert in sie, weil er weiß,
7 daß Auswärtige Politik ohne kulturelle Selbstdarstellung nicht funktioniert.
28    All dies ab er wäre wirkungslos, wenn nicht diese offenbar unersättliche Nachfrage
9 nach Kultur bestünde. Wie ist sie zu erklären? Sind wir ein Volk von Epikureern
10 geworden, das sich besinnungslos den schönen Dingen zuwendet? Wenn man etwas nicht
11 genau weiß, redet man am besten von einem Syndrom. So hätte denn das Kultur-Syndrom
12 vermutlich die folgenden Ursachen:
313    Erstens - naheliegend, aber deshalb nicht falsch: die wachsende Freizeit. Neben
14 Streß und Arbeit bleiben offenbar immer mehr Mußestunden übrig für Boris und Steffi,
15 aber auch für Kultur. Und dann das wachsende Heer der immer rüstigeren Rentner, die
16 sich das letzte Viertel ihres Lebens gerne mit Beethoven und Chagall und oft auch mit
17 Modernerem verschönern. Schließlich die Arbeitslosen, von denen viele imstande sind,
18 sich trotzdem einen Museumsbesuch oder ein Taschenbuch zu leisten.
419    Zweitens: die Sättigung. Ein Volk, das genug Brot hat, widmet sich den Spielen. Der
20 gewachsene Bildungs- und Besitzstand hat die Genüsse verfeinert und die Ansprüche
21 erhöht. Wer früher mit seiner Musiktruhe oder mit seinem Borgward (1) prahlte,
22 renommiert heute mit Premierenpräsenz und Buchtitelkenntnis.
523    Drittens: das sogenannte Sinndefizit. Man kann streiten, ob es das wirklich gibt,
24 Tatsache aber ist, daß die traditionellen Sinnstiftungen durch Religion und Tradition ihre
25 umfassende Gültigkeit verloren haben. Stattdessen sind sämtliche je gedachten
26 Weltanschauungen und Philosophien zugleich präsent. Die Meinungen, Moden und
27 Prophetien wechseln immer schneller, und diese Akzeleration erzeugt ein Gefühl der
28 Stagnation - einem Speichenrad vergleichbar, das bei zunehmender Geschwindigkeit
29 aussieht, als stünde es still. Und wenn der scheinbare Stillstand von apokalyptischen
30 Visionen, ob Seveso oder Tschernobyl, überschattet wird, wächst das Bedürfnis, im
31 Kunstgenuß entweder der Probleme zeitweise enthoben zu sein oder aber durch die
32 Begegnung mit Kunst fiktive Antworten und Lebensentwürfe durchzuspielen. Ob wir auf
33 einem Vulkan tanzen, ist nicht gewiß, jedenfalls aber tanzen wir.
634    So etwa wäre die Lage. Weshalb erfüllt sie die Kulturschaffenden nicht mit blanker
35 Euphorie? Einerseits, weil Euphorie ihnen nicht steht. Andererseits aber, weil es, von
36 solcher Attitüde abgesehen, durchaus ein paar heikle Punkte gibt. Man könnte zum
37 Beispiel fragen: Was soll uns die Kunst? Ist sie wirklich bloß ein Festival-Divertimento,
38 tauglich zum Amüsement und zum Zeitvertreib und zu sonst nichts? Oder ist es nicht
39 vielmehr so: Der bürgerliche Kunstbegriff, der in der Ära der Postmoderne noch längst
40 nicht ausgedient hat, weil der Kulturbetrieb ihm fast alles verdankt, rechnet mit dem
41 Individuum, das in der singulären Begegnung mit dem Kunstwerk erschüttert und
42 verändert wird. Das Individuum aber droht im kollektiven Konsum unterzugehen, und das
43 singuläre, nachhaltige Kunsterlebnis verschwindet auf dem Jahrmarkt des kulturellen
44 Überangebotes.

Die Zeit, 7.8.1987

noot 1 Borgward: een gerenommeerd, niet meer bestaand Duits automerk