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deutsche Richter

Wie unabhängig sind deutsche Richter?

11    Wer wieder einmal den Verdacht hegt, im Namen des Volkes sei mit zweierlei Maß
2 gemessen worden, der mag von einer ganz einfachen Mechanik des Rechts träumen: von
3 jenem Klavier, das Urteile so genau wie Töne produziert. Das ist ein neues Bild für eine
4 alte Vorstellung, die schon Montesquieu faszinierte - die Justiz als Paragraphenautomat.
25    Jeder weiß, daß ein solcher Automat sehr schnell ins Stottern käme: Es gibt
6 Rechtsgebiete ohne einen einzigen Paragraphen, Gesetze mit Lücken, Vorschriften, die
7 sich widersprechen, Regeln, die nur einen Rahmen stecken. Auch der umtriebigste
8 Gesetzgeber ist nicht in der Lage, jeden Einzelfall zu regeln. Darum läßt er Spielräume für
9 Entscheidungen, die den Einzelfällen gerecht werden sollen. Und so kommt es, daß der
10 Gleichheitssatz ein unerwartetes Echo hat: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich,
11 sagt die Verfassung. Aber jeder Fall ist anders, erwidern die Juristen.
312    Das ist eine Erklärung für Entscheidungen, die nicht zusammenpassen wollen. Oft
13 genug aber ist es nur eine Ausrede. Sie vertuscht, daß es den vorurteilslosen, politisch
14 neutralen und von persönlichen Wertungen freien Richter nicht gibt. Nicht nur jeder Fall
15 ist anders, auch jeder Richter richtet anders. Wer sagt, die Justiz tue nichts anderes als mit
16 vorgegebenen Gewichten wiegen, macht es sich zu einfach. Er verschweigt, daß Zeitgeist
17 und Ideologien, daß die eigenen Erfahrungen und Anschauungen des Richters das
18 Gewicht dieser Gewichte bestimmen. Dies zuzugeben würde die Justiz menschlich
19 machen - und auch Erwartungen abbauen, die häufig unerfüllbar sind. Oft genug nämlich
20 kann die Justiz gesellschaftliche Konflikte nicht lösen, sondern nur widerspiegeln. Die
21 unterschiedlichen Strafurteile gegen Blockierer von Raketenlagern sind dafür ein
22 typisches Beispiel der letzten Zeil.
423    Warum bleibt dieses Geständnis aus? Die Richter, so hat ein Kritiker aus den eigenen
24 Reihen geantwortet, unterscheiden sich von anderen Berufsständen durch ihr
25 unerschütterlich gutes Gewissen. Sie reden, beispielsweise, von gerechter Strafe und
26 begründen sie mit hohlen Formeln: Es handele sich, so sagen sie, um das für vergleichbare
27 Fälle übliche Strafmaß. Kaum einer gibt zu, daß er bei diesem Vergleich nicht über die
28 Grenzen seines eigenen kleinen Tätigkeitsbereichs hinaussieht.
529    Persönliche Anfechtungen, die jeder Richter kennt, werden am hartnäckigsten
30 geleugnet - als wäre es eine Schande, dagegen vorzugehen. Nur Außenseiter geben zu,
31 daß »Tänze um das Wohlwollen von Dienstvorgesetzten und Personalreferenten«
32 stattfinden. Und der Unmut darüber, daß der Zugriff der Politik sich auch schon auf
33 kleinere Beförderungsposten erstreckt, verbirgt sich im kleinen Zirkel. Tatsache ist: Der
34 hierarchische Aufbau der Justiz, das Beförderungswesen, stärkt die Unabhängigkeit der
35 Justiz nicht. Er begünstigt aber die Anpassung an das jeweilige Klima, an tatsächliche oder
36 vermutete Erwartungen »von oben«, Man mag darüber streiten, wie und in welchem Maß
37 derartige Anpassung tatsächlich stattfindet. Es reicht eigentlich schon, daß solche Gefahr
38 besteht. Um sie gänzlich abzustellen, gibt es letztlich nur zwei Möglichkeiten: auf die
39 eigene Beförderung zu verzichten oder das hierarchische System abzuschaffen.
640    Entscheidungskriterien, von denen nichts im Gesetz steht, gibt es auch dann noch
41 genug.

Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, 20.121.5.1989