1 | 1 | | Wer wieder einmal den Verdacht hegt, im Namen des Volkes sei mit zweierlei Maß |
| 2 | | gemessen worden, der mag von einer ganz einfachen Mechanik des Rechts träumen: von |
| 3 | | jenem Klavier, das Urteile so genau wie Töne produziert. Das ist ein neues Bild für eine |
| 4 | | alte Vorstellung, die schon Montesquieu faszinierte - die Justiz als Paragraphenautomat. |
2 | 5 | | Jeder weiß, daß ein solcher Automat sehr schnell ins Stottern käme: Es gibt |
| 6 | | Rechtsgebiete ohne einen einzigen Paragraphen, Gesetze mit Lücken, Vorschriften, die |
| 7 | | sich widersprechen, Regeln, die nur einen Rahmen stecken. Auch der umtriebigste |
| 8 | | Gesetzgeber ist nicht in der Lage, jeden Einzelfall zu regeln. Darum läßt er Spielräume für |
| 9 | | Entscheidungen, die den Einzelfällen gerecht werden sollen. Und so kommt es, daß der |
| 10 | | Gleichheitssatz ein unerwartetes Echo hat: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, |
| 11 | | sagt die Verfassung. Aber jeder Fall ist anders, erwidern die Juristen. |
3 | 12 | | Das ist eine Erklärung für Entscheidungen, die nicht zusammenpassen wollen. Oft |
| 13 | | genug aber ist es nur eine Ausrede. Sie vertuscht, daß es den vorurteilslosen, politisch |
| 14 | | neutralen und von persönlichen Wertungen freien Richter nicht gibt. Nicht nur jeder Fall |
| 15 | | ist anders, auch jeder Richter richtet anders. Wer sagt, die Justiz tue nichts anderes als mit |
| 16 | | vorgegebenen Gewichten wiegen, macht es sich zu einfach. Er verschweigt, daß Zeitgeist |
| 17 | | und Ideologien, daß die eigenen Erfahrungen und Anschauungen des Richters das |
| 18 | | Gewicht dieser Gewichte bestimmen. Dies zuzugeben würde die Justiz menschlich |
| 19 | | machen - und auch Erwartungen abbauen, die häufig unerfüllbar sind. Oft genug nämlich |
| 20 | | kann die Justiz gesellschaftliche Konflikte nicht lösen, sondern nur widerspiegeln. Die |
| 21 | | unterschiedlichen Strafurteile gegen Blockierer von Raketenlagern sind dafür ein |
| 22 | | typisches Beispiel der letzten Zeil. |
4 | 23 | | Warum bleibt dieses Geständnis aus? Die Richter, so hat ein Kritiker aus den eigenen |
| 24 | | Reihen geantwortet, unterscheiden sich von anderen Berufsständen durch ihr |
| 25 | | unerschütterlich gutes Gewissen. Sie reden, beispielsweise, von gerechter Strafe und |
| 26 | | begründen sie mit hohlen Formeln: Es handele sich, so sagen sie, um das für vergleichbare |
| 27 | | Fälle übliche Strafmaß. Kaum einer gibt zu, daß er bei diesem Vergleich nicht über die |
| 28 | | Grenzen seines eigenen kleinen Tätigkeitsbereichs hinaussieht. |
5 | 29 | | Persönliche Anfechtungen, die jeder Richter kennt, werden am hartnäckigsten |
| 30 | | geleugnet - als wäre es eine Schande, dagegen vorzugehen. Nur Außenseiter geben zu, |
| 31 | | daß »Tänze um das Wohlwollen von Dienstvorgesetzten und Personalreferenten« |
| 32 | | stattfinden. Und der Unmut darüber, daß der Zugriff der Politik sich auch schon auf |
| 33 | | kleinere Beförderungsposten erstreckt, verbirgt sich im kleinen Zirkel. Tatsache ist: Der |
| 34 | | hierarchische Aufbau der Justiz, das Beförderungswesen, stärkt die Unabhängigkeit der |
| 35 | | Justiz nicht. Er begünstigt aber die Anpassung an das jeweilige Klima, an tatsächliche oder |
| 36 | | vermutete Erwartungen »von oben«, Man mag darüber streiten, wie und in welchem Maß |
| 37 | | derartige Anpassung tatsächlich stattfindet. Es reicht eigentlich schon, daß solche Gefahr |
| 38 | | besteht. Um sie gänzlich abzustellen, gibt es letztlich nur zwei Möglichkeiten: auf die |
| 39 | | eigene Beförderung zu verzichten oder das hierarchische System abzuschaffen. |
6 | 40 | | Entscheidungskriterien, von denen nichts im Gesetz steht, gibt es auch dann noch |
| 41 | | genug. |