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Angriff auf einen Mythos

Angriff auf einen Mythos

Buchbesprechung

Markus Heiniger. Dreizehn Gründe. Warum die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht erobert wurde, Limmat Verlag, Zürich 1989

11    Seit Meinungsumfragen deutliche VorbehaIte vor allem jüngerer Schweizer
2 gegenüber ihrer Milizarmee ausmachen, kämpfen Befürworter einer starken und
3 wehrhaften Alpenrepublik um Prozente im Ende November stattfindenden
4 Abstimmungskampf. Denn wie soli eine fast ausschließlich aus Reservisten
5 zusammengesetzte Armee abschreckend sein, wenn ihr ein beträchtlicher Teil der
6 Bevölkerung die Daseinsberechtigung abspricht?
27    Kein Wunder, malen Armeebefürworter zur Untermauerung ihrer Überzeugung
8 einmal mehr das Szenario einer von Hitler flugs überrollten Schweiz, wären damals nicht
9 die tapferen Mannen Gewehr bei Fuß an den Grenzen gestanden. Der Mythos des
10 David, der erfolgreich dem Goliath trotzt, ist nicht unterzukriegen. Nüchterner
11 Betrachtung häIt solch helvetozentrische Kriegsbetrachtung längst nicht mehr stand.
12 Belegt wird dies allein schon dadurch, wie leicht es Markus Heiniger gelungen ist, auch
13 bei durchaus »staatstragenden« Historikern wie Hans Rudolf Kurz, Walther Hofer oder
14 Edgar Bonjour Material zu finden, das seine These stützt, wonach vorab wirtschaftliche
15 Kollaboration und die Nützlichkeit einer unversehrten, neutralen Schweiz für die
16 Achsenmächte'' deren Eroberung verhindert haben.
317    Kein immer wieder beschworener Sonderfall, weder überragende Tapferkeit noch
18 ein helvetisches Wunder haben die Schweiz verschont, sondern das Zusammenwirken
19 glücklicher Umstände mit zuweilen moralisch unsauberen Praktiken, behauptet der
20 Autor. Er rütteIt damit an einem Tabu, aber nicht als einziger. Allmählich findet die
21 Schweiz zu einer ehrlicheren Geschichtsschreibung über ihre Rolle im Zweiten WeItkrieg.
422    Zweifellos lassen sich - oft in denselben Quellen, die Heiniger zitiert - auch
23 Angaben finden, welche die Bedeutung der bewaffneten Neutralitätsverteidigung größer
24 erscheinen ließen. Hier muß sich der Verfasser auch den Hauptvorwurf gefallen lassen:
25 Reichlich ungeordnet reiht er Fakten und Dokumentenauszüge aneinander, um dann sehr
26 rasch und häufig ohne Gewichtung von Quellen und Inhalt zu rigiden Urteilen zu
27 gelangen. »Dieses Buch versucht, die militärischen und nichtmilitärischen Faktoren, die
28 zur Verschonung der Schweiz vor einer Invasion beigetragen haben, aufzuzählen, sie zu
29 schiIdem und zu gewichten«, schreibt er im Vorwort, um im nächsten Atemzug gerade
30 am versprochenen nüchternen Umgang mit der Information zweifeln zu lassen: »Das
31 'militärische Argument' spielt eine Statistenrolle«, nimmt er kühn vorweg.
532    Der Schweiz Selbstbespiegelung als einzigartig neutraler Staat darf ruhig Retuschen
33 erfahren. Und Markus Heiniger hat gewiß recht, wenn er - klar in Kapitel gegliedert -
34 neben der Armee die Waffenlieferungen an Nazi-Deutschland, die Vernetzung der
35 schweizerischen mit der deutschen Kriegswirtschaft, die Milliardentribute in Form von
36 Krediten, an deren Rückzahlung nie ernstlich gedacht wurde, die Funktion als
37 Drehscheibe im Herzen Europas und die unversehrten Transitachsen des Alpenlandes,
38 alles also, was sich unter dem Begriff »nützliche Schweiz« bündeln ließe, als
39 Verschonungsgründe auflistet. Und berechtigt ist die Frage, ob all dies denn in der
40 geschehenen Größenordnung nötig gewesen wäre.
641    Bloß beantworten läßt sich diese Frage noch nicht. Anzurechnen ist dem Autor
42 hingegen, daß er bei aller bisweilen vorschnellen Interpretation nicht ins Credo so vieler
43 verfällt, die dieser Tage im Rummel des Abstimmungskampfes gleich sämtliche
44 damaligen Entscheidungsträger als gewissenlose Kollaborateure und Gesinnungsübeltäter
45 abtun. Viele Verfehlungen sind zwar mehr als dunkIe F1ecken auf einer ansonsten
46 blütenweißen Weste. Freilich müßte dies in der Einsicht münden, daß die Weste
47 insgesamt wohl eher grau war. Kann sich aber ein vom Krieg umtoster Kleinstaat
48 überhaupt anders als unauffällig grau kleiden? Ist er nicht in großem Maß zum
49 Opportunismus verdammt?
750    Bereits solche Aussagen werden freilich von vielen als Angriff auf das
51 Schweizertum, auf die vermeintliche »Willensnation Schweiz« verstanden. Noch ist die
52 kritische Auseinandersetzung mit der bisher verdrängten Kooperation im Zweiten
53 Weltkrieg zu neu, als daß Ketzerei ohne Würgen geschluckt würde. Gerade in einem
54 Staat, in dem die Bürger selbst über alle wichtigen Fragen an der Urne entscheiden
55 können, wo Sein oder Nichtsein der Armee vom Kreuz auf dem Stimmzettel abhängen,
56 tut man sich schwer mit der Einmischung von Schriftstellem, Wissenschaftlem und
57 Journalisten in die Politik. Viele trauen sich selbst das Wissen zu und verharren dabei im
58 Glauben.
859    Und schließlich schmerzt ein zweiter Punkt! Aus Heinigers »Dreizehn Gründen«
60 muß jeder geneigte Leser schließen, daß eine völlige Neutralität - wie sie die
61 Eidgenossen auf dem Papier immer noch hochhalten - aueh heute schlicht nicht
62 praktizierbar ist. Zu übermächtig sind die Pressionen von außen, Solches zu vemehmen
63 schmerzt. Wer schlachtet schon gem heilige Kühe?
Die Zeit, 17.11.1989

noot 5 die Achsenmächte: Deutschland und Italien