1 | 1 | | Seit Meinungsumfragen deutliche VorbehaIte vor allem jüngerer Schweizer |
| 2 | | gegenüber ihrer Milizarmee ausmachen, kämpfen Befürworter einer starken und |
| 3 | | wehrhaften Alpenrepublik um Prozente im Ende November stattfindenden |
| 4 | | Abstimmungskampf. Denn wie soli eine fast ausschließlich aus Reservisten |
| 5 | | zusammengesetzte Armee abschreckend sein, wenn ihr ein beträchtlicher Teil der |
| 6 | | Bevölkerung die Daseinsberechtigung abspricht? |
2 | 7 | | Kein Wunder, malen Armeebefürworter zur Untermauerung ihrer Überzeugung |
| 8 | | einmal mehr das Szenario einer von Hitler flugs überrollten Schweiz, wären damals nicht |
| 9 | | die tapferen Mannen Gewehr bei Fuß an den Grenzen gestanden. Der Mythos des |
| 10 | | David, der erfolgreich dem Goliath trotzt, ist nicht unterzukriegen. Nüchterner |
| 11 | | Betrachtung häIt solch helvetozentrische Kriegsbetrachtung längst nicht mehr stand. |
| 12 | | Belegt wird dies allein schon dadurch, wie leicht es Markus Heiniger gelungen ist, auch |
| 13 | | bei durchaus »staatstragenden« Historikern wie Hans Rudolf Kurz, Walther Hofer oder |
| 14 | | Edgar Bonjour Material zu finden, das seine These stützt, wonach vorab wirtschaftliche |
| 15 | | Kollaboration und die Nützlichkeit einer unversehrten, neutralen Schweiz für die |
| 16 | | Achsenmächte'' deren Eroberung verhindert haben. |
3 | 17 | | Kein immer wieder beschworener Sonderfall, weder überragende Tapferkeit noch |
| 18 | | ein helvetisches Wunder haben die Schweiz verschont, sondern das Zusammenwirken |
| 19 | | glücklicher Umstände mit zuweilen moralisch unsauberen Praktiken, behauptet der |
| 20 | | Autor. Er rütteIt damit an einem Tabu, aber nicht als einziger. Allmählich findet die |
| 21 | | Schweiz zu einer ehrlicheren Geschichtsschreibung über ihre Rolle im Zweiten WeItkrieg. |
4 | 22 | | Zweifellos lassen sich - oft in denselben Quellen, die Heiniger zitiert - auch |
| 23 | | Angaben finden, welche die Bedeutung der bewaffneten Neutralitätsverteidigung größer |
| 24 | | erscheinen ließen. Hier muß sich der Verfasser auch den Hauptvorwurf gefallen lassen: |
| 25 | | Reichlich ungeordnet reiht er Fakten und Dokumentenauszüge aneinander, um dann sehr |
| 26 | | rasch und häufig ohne Gewichtung von Quellen und Inhalt zu rigiden Urteilen zu |
| 27 | | gelangen. »Dieses Buch versucht, die militärischen und nichtmilitärischen Faktoren, die |
| 28 | | zur Verschonung der Schweiz vor einer Invasion beigetragen haben, aufzuzählen, sie zu |
| 29 | | schiIdem und zu gewichten«, schreibt er im Vorwort, um im nächsten Atemzug gerade |
| 30 | | am versprochenen nüchternen Umgang mit der Information zweifeln zu lassen: »Das |
| 31 | | 'militärische Argument' spielt eine Statistenrolle«, nimmt er kühn vorweg. |
5 | 32 | | Der Schweiz Selbstbespiegelung als einzigartig neutraler Staat darf ruhig Retuschen |
| 33 | | erfahren. Und Markus Heiniger hat gewiß recht, wenn er - klar in Kapitel gegliedert - |
| 34 | | neben der Armee die Waffenlieferungen an Nazi-Deutschland, die Vernetzung der |
| 35 | | schweizerischen mit der deutschen Kriegswirtschaft, die Milliardentribute in Form von |
| 36 | | Krediten, an deren Rückzahlung nie ernstlich gedacht wurde, die Funktion als |
| 37 | | Drehscheibe im Herzen Europas und die unversehrten Transitachsen des Alpenlandes, |
| 38 | | alles also, was sich unter dem Begriff »nützliche Schweiz« bündeln ließe, als |
| 39 | | Verschonungsgründe auflistet. Und berechtigt ist die Frage, ob all dies denn in der |
| 40 | | geschehenen Größenordnung nötig gewesen wäre. |
6 | 41 | | Bloß beantworten läßt sich diese Frage noch nicht. Anzurechnen ist dem Autor |
| 42 | | hingegen, daß er bei aller bisweilen vorschnellen Interpretation nicht ins Credo so vieler |
| 43 | | verfällt, die dieser Tage im Rummel des Abstimmungskampfes gleich sämtliche |
| 44 | | damaligen Entscheidungsträger als gewissenlose Kollaborateure und Gesinnungsübeltäter |
| 45 | | abtun. Viele Verfehlungen sind zwar mehr als dunkIe F1ecken auf einer ansonsten |
| 46 | | blütenweißen Weste. Freilich müßte dies in der Einsicht münden, daß die Weste |
| 47 | | insgesamt wohl eher grau war. Kann sich aber ein vom Krieg umtoster Kleinstaat |
| 48 | | überhaupt anders als unauffällig grau kleiden? Ist er nicht in großem Maß zum |
| 49 | | Opportunismus verdammt? |
7 | 50 | | Bereits solche Aussagen werden freilich von vielen als Angriff auf das |
| 51 | | Schweizertum, auf die vermeintliche »Willensnation Schweiz« verstanden. Noch ist die |
| 52 | | kritische Auseinandersetzung mit der bisher verdrängten Kooperation im Zweiten |
| 53 | | Weltkrieg zu neu, als daß Ketzerei ohne Würgen geschluckt würde. Gerade in einem |
| 54 | | Staat, in dem die Bürger selbst über alle wichtigen Fragen an der Urne entscheiden |
| 55 | | können, wo Sein oder Nichtsein der Armee vom Kreuz auf dem Stimmzettel abhängen, |
| 56 | | tut man sich schwer mit der Einmischung von Schriftstellem, Wissenschaftlem und |
| 57 | | Journalisten in die Politik. Viele trauen sich selbst das Wissen zu und verharren dabei im |
| 58 | | Glauben. |
8 | 59 | | Und schließlich schmerzt ein zweiter Punkt! Aus Heinigers »Dreizehn Gründen« |
| 60 | | muß jeder geneigte Leser schließen, daß eine völlige Neutralität - wie sie die |
| 61 | | Eidgenossen auf dem Papier immer noch hochhalten - aueh heute schlicht nicht |
| 62 | | praktizierbar ist. Zu übermächtig sind die Pressionen von außen, Solches zu vemehmen |
| 63 | | schmerzt. Wer schlachtet schon gem heilige Kühe? |