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Man sieht nur, was man weiss

»Man sieht nur, was man weiß«


Joseph Beuys, "Badewanne", 1960 (Beuys-Katalog, Arbeiten aus Münchner Sammlungen Abb. 225)

Der Schriftsteller Günter Kunert hat unlängst in der Wochenzeitschrift »Die Zeit« über Sinn und Unsinn gegenwärtiger Kunst rejlektiert und mit seiner Kritik eine vielbeachtete Diskussion ausgelöst.
11    Kunst sei, so Kunert, von der Magd der Theologie zur Angestellten des Marktes
2 geworden. Sie sei nicht mehr imstande, eine Deutung der Welt vorzuweisen, befinde sich
3 in einer tödlichen Agonie", zitiere nur noch ihre eigene Vergangenheit und täusche
4 Vitalität vor, indem sie sich mit zerbrochenem Glas, Schrott, Fett, Filz und Neon als
5 Material präsentiere, das ohne den bernühten Handlanger des Künstlers, den Interpreten,
6 toter Müll bleibe. Die »unaufhörlich überflüssigen Hervorbringungen«, sprich »Werke«,
7 seien sinn- und funktionslos, und taugten allenfalls noch zu Zeitvertreib und Geschwätz.
8 In ihrer Unverständlichkeit rücke die moderne Kunst in die Nähe der Höhlenmalerei.
9 Für diese wie für jene fehle uns der erklärende Kontext.
210    Der Unterschied zwischen den neolithischen Artefakterr" und den allerneuesten
11 bestehe in der ihnen zugeschriebenen Bedeutung. Die steinzeitlichen »Künstler« hätten
12 mit ihren Kritzeleien Wichtiges übermitteln wollen, die kontemporäre Bildnerei sei, weil
13 sinn- und inhaltslos, auf gedankliche Auffüllung angewiesen, und dies erkläre denn auch,
14 daß nach der im menschlichen Morgendämmer verfertigten Kunst die Kunst unserer
15 Spätzeit ebenfalls eine literarische sei, die weniger der emotionalen Beteiligung bedürfe
16 als der Anstrengung des Dekodierens.
317    Kunert hat für die ihm unheimliche Verwandlung der Kunst nur eine Erklärung:
18 Schuld daran ist die Freiheit der Kunst, nicht die politische Freiheit, die die Grundlage
19 jedweder Kreativität ist, sondern diejenige, die entsteht, wenn weder geistige noch
20 ästhetische und moralische Verpflichtungen mehr normsetzend wirken, und die zu
21 Bindungslosigkeit und Verantwortungslosigkeit führt, in der die Beliebigkeit zum
22 Schaffensprinzip wird, zo einem »Anything goes«, in dem die Kunst schließlich bis zur
23 Unkenntlichkeit verblaßt.
424    Der Präsident der Münchner Kunstakademie, Wieland Schmied, ist ganz anderer
25 Meinung. Er fühle sich in den Museen und Galerien bisweilen überwältigt von all der
26 Sinngebung und Weltdeutung, die er dort erlebe und erfahre. Schwierig sei das
27 Verständnis moderner Kunst nur eben deshalb, weil die Kunst ihren Sinn in der Sprache
28 der Kunst ausspreche oder, anders gesagtweil die »Botschaft« den Werken inhärent sei
29 und nicht ablesbar wie ein ihnen anklebender Leitartikel. Deshalb brauche die Kunst
30 auch den Interpreten. »Kunst und ihre Interpreten gehören innig zusammen«. Die
31 Goethe'sche Maxime »Man sieht nur, was man weiß« sei längst AlIgemeingut.
532    Was ferner die Freiheit der Kunst angehe : Der Künstler habe keinesfalls seine
33 Verantwortung verloren, wohl ab er habe die Instanz seiner Verantwortung gewechselt.
34 Die einzige Instanz, der er sich verantwortlich fühle, sei er selbst, sei sein eigenes
35 ästhetisches Urteil, sein künstlerisches Bewußtsein. Dies mit Verantwortungslosigkeit
36 gleichzusetzen, erscheine ihm, Schmied, die Gegebenheiten künstlerischer Produktivität
37 im 20. Jahrhundert völlig zu verkennen.
638    Ein weiterer Mit-Diskutant, der Maler Klaus Fussmann, sieht die Dinge eher wie
39 Kunert: Mal Tische und Stühle, mal Bleirohre, Lehm oder nagelneue Staubsauger in den
40 Museen - was das alles soli, bleibt auch Fussmann ein Rätsel. Die Moderne hat
41 Narrenfreiheit, darf aber nicht ausgelacht werden. Es ist unvorstellbar, weiß Fussmann,
42 daß irgendeine Verwirrung oder Verirrung der modernen Kunst etwas anhaben kann.
43 Aber wie kommt das? Aus welchem Grunde ist die zeitgenössische Kunst unangreifbar? Weil
44 sie ununterbrochen voran stürmt, immer Neues produziert, sich jeweils nur kurz
45 zeigt, nie das ist, was man sieht, und deshalb eigentlich gar nicht faßbar ist - obgleich
46 auch das jeweils Neue, genau genommen, meist Modifikation, Aufguß von
47 Vorangegangenem ist - Epigonerie wie der Neo-Expressionismus. Für die Moderne wäre
48 Stillstand Selbstaufgabe, ihr Selbstverständnis ist die endlose Innovation, sie muß immer
49 neue Kunst erfinden. Und dies führt, so Fussmann, zwangsläufig zu Zeitnot und
50 Unbedachtsamkeit. Die modernen Kunstwerke vermittelten ihm, Fussmann, jedenfalls
51 keine neuen »Weltbilder« oder »Sinnentw ürfe« ,
752    Aber das muß Kunst nach Werner Hofmann, dem Leiter der Hamburger
53 KunsthalIe, auch gar nicht. Warum, fragt Hofmann im weiteren Verlauf der Kontroverse,
54 müssen immer gleich »Weltbilder« bernüht werden? Warum führen Wertungen von
55 Kunstwerken immer gleich zu Preisung oder Verriß? Und warum schlägt Zweifel immer
56 gleich in Verzweitlung, Sympathie in blinde Parteinahme urn? - Weil die öffentlichen
57 Sammlungen, laut Hofmann, in der Regel entwicklungsgeschichtliche Einbahnstraßen
58 entwerfen, auf denen widerspruchsfreie Prozesse ablaufen. »Gäbe es einen musealen Ort
59 der weitläufigen, kontroversen Begegnungen, gerieten Streitgespräche wie das zwischen
60 Kunert, Schmied und Fussmann nicht so auswegslos in apodiktische Standpunkte,
61 sondern spieIten sich auf der Plattform skeptischer Toleranz ab, getragen von der
62 Bereitschaft, sich von Kunstwerken mitunter verwirren oder sogar erschrecken zu lassen«.
Kulturchronik. 3/1989

noot 3 Agonie: Todeskampf
noot 4 Artefakt: etwas von Menschenhand Geschaffenes