1 | 1 | | Kunst sei, so Kunert, von der Magd der Theologie zur Angestellten des Marktes |
| 2 | | geworden. Sie sei nicht mehr imstande, eine Deutung der Welt vorzuweisen, befinde sich |
| 3 | | in einer tödlichen Agonie", zitiere nur noch ihre eigene Vergangenheit und täusche |
| 4 | | Vitalität vor, indem sie sich mit zerbrochenem Glas, Schrott, Fett, Filz und Neon als |
| 5 | | Material präsentiere, das ohne den bernühten Handlanger des Künstlers, den Interpreten, |
| 6 | | toter Müll bleibe. Die »unaufhörlich überflüssigen Hervorbringungen«, sprich »Werke«, |
| 7 | | seien sinn- und funktionslos, und taugten allenfalls noch zu Zeitvertreib und Geschwätz. |
| 8 | | In ihrer Unverständlichkeit rücke die moderne Kunst in die Nähe der Höhlenmalerei. |
| 9 | | Für diese wie für jene fehle uns der erklärende Kontext. |
2 | 10 | | Der Unterschied zwischen den neolithischen Artefakterr" und den allerneuesten |
| 11 | | bestehe in der ihnen zugeschriebenen Bedeutung. Die steinzeitlichen »Künstler« hätten |
| 12 | | mit ihren Kritzeleien Wichtiges übermitteln wollen, die kontemporäre Bildnerei sei, weil |
| 13 | | sinn- und inhaltslos, auf gedankliche Auffüllung angewiesen, und dies erkläre denn auch, |
| 14 | | daß nach der im menschlichen Morgendämmer verfertigten Kunst die Kunst unserer |
| 15 | | Spätzeit ebenfalls eine literarische sei, die weniger der emotionalen Beteiligung bedürfe |
| 16 | | als der Anstrengung des Dekodierens. |
3 | 17 | | Kunert hat für die ihm unheimliche Verwandlung der Kunst nur eine Erklärung: |
| 18 | | Schuld daran ist die Freiheit der Kunst, nicht die politische Freiheit, die die Grundlage |
| 19 | | jedweder Kreativität ist, sondern diejenige, die entsteht, wenn weder geistige noch |
| 20 | | ästhetische und moralische Verpflichtungen mehr normsetzend wirken, und die zu |
| 21 | | Bindungslosigkeit und Verantwortungslosigkeit führt, in der die Beliebigkeit zum |
| 22 | | Schaffensprinzip wird, zo einem »Anything goes«, in dem die Kunst schließlich bis zur |
| 23 | | Unkenntlichkeit verblaßt. |
4 | 24 | | Der Präsident der Münchner Kunstakademie, Wieland Schmied, ist ganz anderer |
| 25 | | Meinung. Er fühle sich in den Museen und Galerien bisweilen überwältigt von all der |
| 26 | | Sinngebung und Weltdeutung, die er dort erlebe und erfahre. Schwierig sei das |
| 27 | | Verständnis moderner Kunst nur eben deshalb, weil die Kunst ihren Sinn in der Sprache |
| 28 | | der Kunst ausspreche oder, anders gesagtweil die »Botschaft« den Werken inhärent sei |
| 29 | | und nicht ablesbar wie ein ihnen anklebender Leitartikel. Deshalb brauche die Kunst |
| 30 | | auch den Interpreten. »Kunst und ihre Interpreten gehören innig zusammen«. Die |
| 31 | | Goethe'sche Maxime »Man sieht nur, was man weiß« sei längst AlIgemeingut. |
5 | 32 | | Was ferner die Freiheit der Kunst angehe : Der Künstler habe keinesfalls seine |
| 33 | | Verantwortung verloren, wohl ab er habe die Instanz seiner Verantwortung gewechselt. |
| 34 | | Die einzige Instanz, der er sich verantwortlich fühle, sei er selbst, sei sein eigenes |
| 35 | | ästhetisches Urteil, sein künstlerisches Bewußtsein. Dies mit Verantwortungslosigkeit |
| 36 | | gleichzusetzen, erscheine ihm, Schmied, die Gegebenheiten künstlerischer Produktivität |
| 37 | | im 20. Jahrhundert völlig zu verkennen. |
6 | 38 | | Ein weiterer Mit-Diskutant, der Maler Klaus Fussmann, sieht die Dinge eher wie |
| 39 | | Kunert: Mal Tische und Stühle, mal Bleirohre, Lehm oder nagelneue Staubsauger in den |
| 40 | | Museen - was das alles soli, bleibt auch Fussmann ein Rätsel. Die Moderne hat |
| 41 | | Narrenfreiheit, darf aber nicht ausgelacht werden. Es ist unvorstellbar, weiß Fussmann, |
| 42 | | daß irgendeine Verwirrung oder Verirrung der modernen Kunst etwas anhaben kann. |
| 43 | | Aber wie kommt das? Aus welchem Grunde ist die zeitgenössische Kunst unangreifbar? Weil |
| 44 | | sie ununterbrochen voran stürmt, immer Neues produziert, sich jeweils nur kurz |
| 45 | | zeigt, nie das ist, was man sieht, und deshalb eigentlich gar nicht faßbar ist - obgleich |
| 46 | | auch das jeweils Neue, genau genommen, meist Modifikation, Aufguß von |
| 47 | | Vorangegangenem ist - Epigonerie wie der Neo-Expressionismus. Für die Moderne wäre |
| 48 | | Stillstand Selbstaufgabe, ihr Selbstverständnis ist die endlose Innovation, sie muß immer |
| 49 | | neue Kunst erfinden. Und dies führt, so Fussmann, zwangsläufig zu Zeitnot und |
| 50 | | Unbedachtsamkeit. Die modernen Kunstwerke vermittelten ihm, Fussmann, jedenfalls |
| 51 | | keine neuen »Weltbilder« oder »Sinnentw ürfe« , |
7 | 52 | | Aber das muß Kunst nach Werner Hofmann, dem Leiter der Hamburger |
| 53 | | KunsthalIe, auch gar nicht. Warum, fragt Hofmann im weiteren Verlauf der Kontroverse, |
| 54 | | müssen immer gleich »Weltbilder« bernüht werden? Warum führen Wertungen von |
| 55 | | Kunstwerken immer gleich zu Preisung oder Verriß? Und warum schlägt Zweifel immer |
| 56 | | gleich in Verzweitlung, Sympathie in blinde Parteinahme urn? - Weil die öffentlichen |
| 57 | | Sammlungen, laut Hofmann, in der Regel entwicklungsgeschichtliche Einbahnstraßen |
| 58 | | entwerfen, auf denen widerspruchsfreie Prozesse ablaufen. »Gäbe es einen musealen Ort |
| 59 | | der weitläufigen, kontroversen Begegnungen, gerieten Streitgespräche wie das zwischen |
| 60 | | Kunert, Schmied und Fussmann nicht so auswegslos in apodiktische Standpunkte, |
| 61 | | sondern spieIten sich auf der Plattform skeptischer Toleranz ab, getragen von der |
| 62 | | Bereitschaft, sich von Kunstwerken mitunter verwirren oder sogar erschrecken zu lassen«. |