1 | 1 | | Fortschritte in Wissenschaft und Technik werfen trotz aller Erfolge, die sie mit sich |
| 2 | | führen, die Frage auf, wann durch sie die Würde des Menschen verletzt werden kann. |
| 3 | | Denn mit zunehmendem Wissen wächst auch die Fähigkeit, in das Leben des einzelnen |
| 4 | | immer stärker einzugreifen. So können moderne Informationstechniken zum »gläsernen |
| 5 | | Menschen« führen, die Genomanalyse" kann das Recht des einzelnen auf |
| 6 | | Selbstbestimmung verletzen, und die moderne Intensivmedizin wird vielfach deswegen |
| 7 | | kritisiert, weil in manchen lebensverlängernden Maßnahmen ein Angriff auf die |
| 8 | | Menschenwürde erblickt wird . |
2 | 9 | | Wie aber läßt sich genau definieren, wann die Würde eines Menschen durch |
| 10 | | medizinische Eingriffe verletzt wird? Diese Frage ließe sich leicht beantworten, wenn in |
| 11 | | den Menschenrechtserklärungen (die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, |
| 12 | | die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, die Revolutionsverfassung von |
| 13 | | 1791 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948) oder in den |
| 14 | | auf ihnen basierenden Verfassungen wie dem Grundgesetz der Bundesrepublik |
| 15 | | Deutschland genau beschrieben wäre, von welchen Eigenschaften die Menschenwürde |
| 16 | | abhängt, also von welchen körperlichen und geistigen Merkmalen. Dies aber geschieht |
| 17 | | nirgends. |
3 | 18 | | Anders als etwa die Katholische Kirche, welche die Menschenwürde darauf |
| 19 | | zurückführt, daê Gott den Menschen mit einer »Geistseele« ausgestattet habe, |
| 20 | | beschreiben die Deklarationen und Verfassungen westlicher Länder nur, wodurch die |
| 21 | | Menschenwürde verletzt wird: Durch Eingriff in die körperliche Integrität, durch |
| 22 | | Beschränkung der Meinungs- und Willensfreiheit und der Freizügigkeit. |
4 | 23 | | Diese Zurückhaltung hat einen guten Grund. Beantworteten die Verfassungen die |
| 24 | | Frage nach dem, was das Wesen des Menschlichen - also die Menschenwürde - ist, mit |
| 25 | | körperlichen oder geistigen Eigenschaften, führte dies automatisch dazu, daß alle |
| 26 | | diejenigen aus der Definition herausfielen, welche die vom Gesetzgeber festgelegten |
| 27 | | Normen nicht erfüllen. |
5 | 28 | | Dies widerspräche aber der Grundüberzeugung eben jenes Denkens, das die |
| 29 | | Erklärungen zur Menschenwürde überhaupt erst hervorgebracht hat. Nach dieser |
| 30 | | Überzeugung genießt jeder Mensch alle Rechte der »freien Entfaltung der |
| 31 | | Persönlichkeit«, ohne daß er bestimmte körperliche oder geistige Leistungsnormen vorab |
| 32 | | zu erfüllen hätte. |
6 | 33 | | Diese Überzeugung war in den demokratischen Gesellschaften solange |
| 34 | | unumstritten, wie körperliche und geistige Eigenschaften im wesentlichen als Schicksal |
| 35 | | angesehen wurden. Mit den Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung, der pränatalen |
| 36 | | Diagnostik und der Kartographierung des menschlichen Genoms aber gerät dieser |
| 37 | | Konsens zum Teil ins Wanken, weil körperliche oder geistige Gebreehen immer besser |
| 38 | | vorhergesagt werden können. Diese Prognosemöglichkeit zwingt die Frage auf, unter |
| 39 | | welchen Bedingungen eine Existenz noch als menschenwürdig bezeichnet werden kann. |
| 40 | | Ober dieses Problem führen Rechtswissenschaftler, Philosophen, Theologen, Mediziner |
| 41 | | und Naturwissenschaftler seit Jahren einen intensiven Dialog, ohne aber bisher zu |
| 42 | | bündigen Schlußfolgerungen gelangt zu sein. |
7 | 43 | | Dieses magere Ergebnis kann nicht verwundern, denn die Abstraktheit der |
| 44 | | Menschenrechtsformulierungen in den entsprechenden Deklarationen und Verfassungen |
| 45 | | soll ja gerade verhindern, daß der Kern des Menschlichen mit bestimmten Eigenschaften |
| 46 | | wie Intelligenz, Hautfarbe, körperlicher Leistungsfähigkeit oder sogar Abstammung |
| 47 | | definiert wird. Die Menschenwürde ist auch deshalb »unantastbar«, weil sie über alle |
| 48 | | diese beschreibbaren Eigenschaften weit hinausgeht. |
8 | 49 | | Der Ruf nach neuen ethischen Maßstäben, wie er manchmal aus |
| 50 | | naturwissenschaftlichen oder medizinischen Kreisen zu vernehmen ist, kann daher |
| 51 | | prinzipiell nicht weiterhelfen, denn eine Ethik, die sich jeweils am neuesten |
| 52 | | Forschungsstand der Medizin orientieren würde, hätte den Nachteil, entsprechend den |
| 53 | | »Fortschritten« der medizinischen Erkenntnisse ständig neu definieren zu müssen , was |
| 54 | | wesentlich am Menschen ist. Das aber wäre eine Preisgabe des Menschen an die jeweils |
| 55 | | neueste wissenschaftliche Mode. |
noot 2
Genom = genoom, het geheel van alle genen (dragers van de erfelijke eigenschappen in
de celkern) van de chromosomen van een individu.