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Hans Castrop

Hans Castorp, die Karnevals-Freiheit, das Sie und das Du

11    Im Jahre 1878 erschienen bei Göschen in Stuttgart Gottfried KeIlers »Z üricher
2 Novellen«. Die Rahmenerzählung spielt etwa fünfzig Jahre früher, und sie setzt ein mit
3 der Vorstellung eines jungen Menschen, »der wegen seines Heranwachsens von den
4 Dienstboten des Hauses bereits Herr Jacques genannt und von den Hausfreunden
5 einstweilen geihrzt wurde, da er für das Ou sich als zu groû und für das Sie noch als zu
6 unbeträchtlich darstellte« ,
27    Für das Sie noch als zu unbeträchtlich : Es steht zu vermuten, daß heute eine junge
8 oder jüngere, bis in ihre Vierziger reichende Generation diesen Passus nicht mehr
9 verstehen wird (falls sie überhaupt zu Gottfried KeIler greift). Eine Generation, die das
10 Du zur verbindlichen Anrede gemacht hat, bestimmt von dem Glauben, daß eine
11 demokratische Gesellschaft eine ohne Unterschiede sei und daß solche Gleichheit sich
12 auch ausdrücken müsse in der gleichmachenden Anredeform. Was wiederum zur Folge
13 hat, daß man sich (unter Studenten zum Beispiel) nur mehr beim Vornamen kennt - der
14 in der Regel verbreitet, also für nicht eben wenige gültig ist; wohingegen der
15 individualisierende Nachname der Gleichgültigkeit anheimfäIlt.
316    Die Beziehungen der Menschen zueinander und untereinander sind vertrackter Art
17 und mannigfach abgestuft, gegliedert, differenziert. Im Deutschen galt es als
18 selbstverständlich, daß Verwandtschaft und kumpelhafte Kameraderie nichts anderes
19 zulieûen als das »Du«. Die Beziehung dann der Freundschaft bekundete sich von einem
20 bestimmten Grad der Nähe an durch den Entscheid, nunmehr »Brüderschaft« zu
21 schlieûen ; auch zu trinken, was man mit dem reichlich albern klingenden studentischen
22 Ausdruck »Schmollis« belegte.
423    Das alles ist weitgehend dahin. Das Ou beherrscht die Szene. Fragt man nach den
24 Gründen, so wird zu allererst das Vorbild der englisch-amerikanischen Sprache
25 verantwortlich gemacht. Die Übernahme der undifferenzierten Anredeform legt bei dieser
26 Gelegenheit wieder eine der stärksten Triebfedern sprachlicher Veränderungen offen:
27 Bequemlichkeit.
528    Solcher Vereinfachung freue sich, wer mag. Sie ist Ausdruck des gleichmachenden,
29 nivellierenden, standardisierenden Zeitgeistes. Der, wenn er Neigung hätte, ein
30 Gedächtnis zu bemühen und ein Nachdenken zu erlauben, sich bewuûtrnachen wird,
31 welch einen Verlust der Verlust von differenzierenden Zeichen für differenzierte
32 Beziehungen darstellt.
633    Denn wenn nach wie vor gilt, daß Menschen einander auf unterschiedliche Weise
34 nah oder fern, fremd oder vertraut sind, dann wird die sprachliche Bezeichnung solcher
35 Beziehung als Ausdruck eines humanen Bewuûtseins geiten können; als Ausdruck des
36 Bestrebens, die Wirklichkeit einer inneren Beziehung oder die Tatsächlichkeit einer
37 sozialen Beziehung durch klare Zeichen wiederzugeben. Was als Reflex des dem
38 Menschen innewohnenden ordnenden Willens durchaus ein Akt der Kultur ist.
739    Am Rande gehört in solchen Zusammenhang auch die oft mit Hysterie behandelte
40 Frage von Titeln und Funktionsbezeichnungen. Daß Deutschland als Land der Titelsucht
41 galt , hat ihm zu Recht den Ruf des Lächerlichen eingetragen. Und doch sollte leicht zu
42 verstehen sein, daß es eine ordnungschaffende und daher lebenserleichternde Rolle
43 spielt, wenn ich in einem Arzt, einem Richter nicht die Privatperson, sondern das Amt
44 anrede, mithin ihm den entsprechenden Titel vorbehalte, den ich wenige Stunden später
45 auûerhalb der beruflichen Situation mit gleicher Selbstverständlichkeit ignoriere.
846    Auf dem Zauberberg!' hält die Fastnacht, die Walpurgisnacht, ihren Einzug.
47 Thomas Mann läût Hans Castorp »ziernlich viel von der Weinmischung« getrunken
48 haben, so duzt er im aIlgemeinen Rausch auch seinen Mentor Settembrini. »Lassen Sie
49 das!«, befiehlt dieser, und: »Bedienen Sie sich der im gesitteten Abendlande üblichen
50 Form der Anrede, der dritten Person pluralis, wenn ich bitten darf! Es steht Ihnen gar
51 nicht zu Gesicht, worin Sie sich da versuchen.«
952    Castorp beruft sich auf die Karnevals-Freiheit, die das Du allgemein akzeptiere.
53 Settembrini: »Ja, urn eines ungesitteten Reizes willen . Das 'Du' unter Fremden, das heiût
54 unter Personen, die einander Rechtes wegen 'Sie' nennen, ist eine widerwärtige Wildheit,
55 ein Spiel mit dem Urstande, ein liederliches Spiel, das ich verabscheue, weil es sich im
56 Grunde gegen Zivilisation und entwickelte Menschlichkeit richtet - sich frech und
57 schamlos dagegen richtet.«
1058    Ein Standpunkt erhabener Strenge - und nun fügt Thomas Mann es aufs schönste,
59 daß er Castorp erlaubt, in dieser Situation Settembrini (und auch der nimmt es hin)
60 weiter mit dem »Du« anzureden. Nicht des Faschings halber, der liefert nur die äuûere
61 Lizenz. Sondern weil er die Chance nutzt, dem humanistischen Aufklärer Settembrini
62 impulsiv und gefühlsbeschwingt von der Dankbarkeit zu reden, die er dem anderen als
63 seinem Lehrer schuldet, dem er sich nahe fühlt - und nun darf er es zeigen.
Ihr
Peter Wapnewski

Die Welt, 17.11.1989

noot 1  »Der Zauberberg«, Roman von Thomas Mann (1875-1955), 1924 erschienen; Castorp und Settembrini: Figuren aus diesem Roman.