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Angst vor Europa?

Angst vor Europa?

11    Nichts beflügelt die menschliche Angst stärker als die Bedrohung, deren Umrisse
2 sich noch hinter dem Paravent (3) der Zukunft verbergen. Wie sehr gerade die Politik mit
3 ihren Unwägbarkeiten vorauseilendes Zagen verursachen kann, erleben wir im
4 Augenblick bei der Debatte über das große Ziel der Europäischen Gemeinschaft. Trotz
5 aller ihr zugeschriebenen Vorzüge nimmt die Vision vom Europa '92, vom großen
6 einheitlichen Markt, in vielen Augen immer bedrohlichere Züge an.
27    Wie schnell die politischen Gezeiten wechseln und wie kurzlebig politische Begriffe
8 sein können: Noch vor wenigen Jahren erregte Westeuropa seiner vermeintlichen
9 Sklerose wegen Verachtung oder Mitleid. Heute richtet sich an dieselben Staaten der
10 übereilte Vorwurf, sie wollten ihre künftige Stärke mißbrauchen und sich in einer Festung
11 einigeln. So vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Regierungsvertreter aus nah und fern
12 bei den Brüsseler EG-Institutionen ihre Bedenken vortragen. Es tagt kaum ein
13 internationales Forum, auf dem sich die Teilnehmer nicht über das geplante
14 Wirtschaftseuropa in die Haare geraten.
315    Zur Ironie der Entwicklung gehört es, daß just jene beiden Länder das europäische
16 Regen mit dem heftigsten Argwohn begleiten, die die Europäer erst aus ihrer Lethargie
17 aufgeschreckt haben. Washington wie Tokio warnen unablässig vor einem
18 protektionistischen Europa - und vergessen dabei die eigenen Sünden. Schließlich haben
19 Amerikas politische Wetterwendigkeit und bedenkenlose Verschuldungspolitik die
20 Zwölfer-EG auf den Pfad zu mehr Eigenständigkeit getrieben. Auch Japan hat keinen
21 Grund zur Klage, denn seine Vernichtungsstrategien gegen ganze Industrien in anderen
22 Ländern haben den europäischen Willen gestählt, das Heil in größerer Einheit zu suchen.
423    Ohnehin bieten die Vorgaben für 1992 bisher keinen Grund zur Schelte von
24 draußen. Als Blaupause (4) skizziert die Einheitliche Europäische Akte einen Binnenmarkt
25 ohne Schranken und eine Gemeinschaft, der mehr demokratische Legitimation zuwächst
26 und die schneller entscheiden kann. Das Vorhaben birgt keine Nachteile für
27 Außenstehende, denn es soll die europäische Wirtschaft nicht abschotten, sondern ihr
28 Wachstum beschleunigen. Am Ende des Weges soll Westeuropa über eine stärkere
29 Wirtschaftskraft, höhere Sozialstandards und zugleich mehr politisches Gewicht verfügen.
30 Mit dem befürchteten Protektionismus wären diese Ziele gewiß nicht zu erreichen.
531    Dennoch wird sich der europäische Aufbruch anders als vergleichbare
32 Kraftanstrengungen in der Geschichte vollziehen. Die Gemeinschaftseuropäer werden die
33 vor ihnen liegende Strecke bis 1992 und den Weg danach weder mit der Effizienz
34 zurücklegen, die etwa der staatlich gestützte Wirtschaftsimperialismus der Japaner
35 entwickelt, noch werden sie den Elan aufbringen, der die Amerikaner bei der Gründung
36 der Vereinigten Staaten beflügelte. Zwölf sehr verschieden geprägte und unterschiedlich
37 entwickelte Nationen in einen wirklich gemeinsamen Markt zu führen, verlangt Geduld
38 und Rücksichtnahme auf die Langsamsten im europäischen Geleitzug. Trotz aller
39 euphorischen Vorhersagen der Eurokraten wird das Tempo des Unternehmens '92
40 deshalb eher dem der sowjetischen Perestrojka gleichen als dem der amerikanischen
41 Revolution.
642    Schon die europäischen Perspektiven jedoch versprechen vielfältigen Ertrag. Ein
43 offener Binnenmarkt für 320 Millionen Konsumenten bietet auch den Nicht-Europäern
44 Absatzchancen in nie gekanntem Ausmaß. Eine gestärkte Gemeinschaft könnte zum
45 Anwalt und Ansprechpartner derer werden, die sich bisher vernachlässigt fühlten; ob
46 Dritte Welt oder Osteuropa - eine EG aus einem Guß garantierte ihnen mehr
47 Verständnis für ihre Belange, als sie von der jetzigen Globalordnung erwarten dürfen.
48 Schließlich sollte auch Amerika keine Vorurteile pflegen. Wenn sich im
49 postideologischen Zeitalter weltpolitischer Einfluß tatsächlich mehr auf Wirtschaftskraft
50 als auf Raketenzahlen gründet, kann das Europa der neunziger Jahre nur an Bedeutung
51 gewinnen. Die zweite Säule des Bündnisses, die schon John F. Kennedy herbeisehnte,
52 könnte sich dann endlich diesseits des Atlantiks erheben und einen gewichtigeren Teil
53 der westlichen Bürden tragen.
754    Das neue europäische Potential wird sich nicht schon in der Nacht zum 1. Januar
55 1993 voll entfalten. Die Erfahrungen mit der Gemeinschaft lehren vielmehr, daß ihre
56 Pläne sich weder pünktlich noch im versprochenen Ausmaß erfüllen. Dennoch gewinnt
57 das Europa '92 zunehmend an Gestalt. Allem Geraune zum Trotz wird es sich nicht als
58 Horrorfigur darstellen. Deshalb sollten die EG-Europäer wie die übrige Welt dem
59 historischen Termin ohne Angst entgegensehen.

noot 3 Paravent = windscherm, tochtscherm
noot 4 Blaupause = blauwdruk, hier: ontwerp

Dieter Buhl. Die Zeit 7.4.1989