1 | 1 | | Das Leichte, das so schwer zu machen geht, hat Konjunktur und will von Sättigung |
| 2 | | noch lange nichts wissen. Die Kultur der Gegenwart gibt sich unterhaltsam, wie sie sich |
| 3 | | zu früheren Zeiten religiös oder lehrhaft gegeben hat. Privates Fernsehen, lokaler |
| 4 | | Rundfunk, neue Zeitschriften, Video- und Tonkassetten - alle setzen auf das Leichte. |
| 5 | | Nimmt man den Buchmarkt hinzu, die Werbung, Comics und Computerspiele, dann |
| 6 | | möchte man feststellen: Für Unterhaltung ist reichlich gesorgt. |
2 | 7 | | Zu vergleichender Betrachtung bietet sich ein ganz anderer Markt an, auf dem es |
| 8 | | aber just so zugeht: Essen und Trinken entwickeln sich weg von den Notwendigkeiten hin |
| 9 | | zu einem lässigen Gelegenheitskonsum. Wo einstmals »Lebensmittel« gehandelt wurden, |
| 10 | | präsentiert sich heute ein unabsehbares Sortiment bunter Spezialitäten. Was da andrängt |
| 11 | | ist nicht bloß eßbar und trinkbar, es ist - unterhaltsam. Der nahrhafte Kern der Artikel |
| 12 | | ist wenig geworden gegen den Reichtum der Ausstattung. Die vielen kleinen |
| 13 | | Markenkunstwerke - snick und snack und fix und mix - zeugen weit mehr vom Witz der |
| 14 | | Produktmanager als vom Wert der Naturalien. |
3 | 15 | | Ganz klar, sagen die Produktmanager, wenn überhaupt noch etwas ankommt auf |
| 16 | | den vollgedrängten Märkten, dann ist es das Lecker-Locker-Leichte. Je satter die |
| 17 | | Kundschaft wird, desto unerheblicher muß das sein, was man ihr den noch verkaufen |
| 18 | | will. |
4 | 19 | | Ganz klar, sagen die Programmacher, wenn überhaupt noch etwas ankommt im |
| 20 | | Gedränge der Kanäle und Titel, dann ist es das Lecker-Locker-Leichte. Gleich ihren |
| 21 | | Kollegen von der Food-Branche suchen sie den Erfolg mit snick und snack und fix und |
| 22 | | mix. »Auflockern« heißt die erste Arbeitsanweisung. |
5 | 23 | | Kritik an der Inflation des Unterhaltsamen fällt nicht schwer. Sie muß sich aber |
| 24 | | vorsehen, schließlich ist sie auch Kritik an denen, die die se Inflation durch Kaufen und |
| 25 | | Einschalten in Gang halten. Begriffe wie »überflüssig«, »minderwertig«, »anspruchslos« |
| 26 | | entfalten bei näherem Hinsehen eine reiche Dialektik. Da heißt es nachzudenken über |
| 27 | | die soziale Notwendigkeit des Überflüssigen. Und darüber, daß es dem Menschen |
| 28 | | möglich ist und erlaubt sein muß, Minderwertiges richtig einzuschätzen und es sich |
| 29 | | trotzdem gefallen zu lassen. |
6 | 30 | | Bedenklich ist nicht, daß Unterhaltung in Menge geboten wird, sondern daß sie |
| 31 | | übergreift und infiziert. Wenn der leichte Schaumstoff jeden Hohlraum füllt, der sich |
| 32 | | auftut, dann wird die Luft für anderes knapp. Und wenn nur noch das Unterhaltsame als |
| 33 | | marktfähig gilt, dann suchen auch alle anderen Ressorts ihr Heil in gefälliger Konfektion. |
7 | 34 | | Die ernsthaften Fächer sind stets in Gefahr, langweilig und schwierig zu werden. |
| 35 | | Wenn sie das aber mit Gewalt nicht mehr sein wollen, sondern unterhaltsam, dann droht |
| 36 | | ihnen eine andere, größere Gefahr: ihre Sachbindung zu verlieren. |
8 | 37 | | Brot, das nicht mehr Brot sein will, sondern Knabbergebäck, ist eine |
| 38 | | Merkwürdigkeit. Für den Moment weckt es neuen Appetit, auf die Dauer begibt es sich |
| 39 | | in einen aussichtslosen Wettbewerb, denn was es gerne können möchte, können die |
| 40 | | bunten Spezialitäten längst besser. |
9 | 41 | | Unterhaltung hat keine Gegenstände mit eigenem Anspruch. Sie kann auf |
| 42 | | Sachbindung verzichten. Das ist ihre große Freiheit, und das ist ihre große Not, und |
| 43 | | darum ist sie so schwer zu machen: der Wirkung zuliebe spielt sie mit den Sachen, |
| 44 | | tauscht sie aus nach Laune und Kalkül. Aber wehe, wenn die Wirkung ausbleibt. Es ist |
| 45 | | eine Binsenwahrheit, daß das Unterhaltsame mehr Zuspruch findet als das |
| 46 | | Sachgebundene. Aber sie besagt nicht viel. Sie besagt weder, daß Unterhaltsames immer |
| 47 | | ankommt, noch daß das Sachgebundene in dem Maße besser ankommt, wie es |
| 48 | | unterhaltsam wird. |
10 | 49 | | Eine Medienkultur, die sich vollständig ins Reich der Unterhaltung begibt, stellt |
| 50 | | sich unter das dort herrschende Gesetz der Beliebigkeit. Mit jedem Effekt signalisiert sie |
| 51 | | dem Publikum, daß es nicht darauf ankommt, was da präsentiert wird, sondern nur |
| 52 | | darauf, wie es präsentiert wird. Das Publikum versteht diese Signale gut, es nimmt die |
| 53 | | Effekte zum Nennwert und läßt sonstige Intentionen außer acht. |
11 | 54 | | Erziehungsdiktatur ist ein mit Grund gefürchtetes, weil im Schlimmen bewährtes |
| 55 | | Kulturmodell. Unterhaltungsdiktatur ist ein mögliches zukünftiges. Kein Zweifel |
| 56 | | jedenfalls, daß nach Unterhaltungswert genauso rigoros taxiert werden kann wie nach |
| 57 | | Linientreue und daß Wirklichkeit der Unterhaltung zuliebe genauso entstellt werden |
| 58 | | kann wie der Ideologie zuliebe. Gegen Übergriffe der Erziehung sind wir empfindlich |
| 59 | | geworden, die Übergriffe der Unterhaltung stören uns noch nicht genug. |