1 | 1 | | Den Deutschen ist heute¹ die Beschäftigung mit ihrer eigenen Geschichte |
| 2 | | fragwürdig geworden. Auf allen lastet schwer - als Schuld oder leidvolle Erinnerung die |
| 3 | | Zeit des Nationalsozialismus. Der heutigen Jugend scheint diese Epoche kaum |
| 4 | | begreiflich und wie ein fluchbeladenes Erbe der Väter . Die Gegenwart kann bei allem |
| 5 | | äußeren Glanz und materiellen Wohlstand nicht darüber hinwegtäuschen, daß das |
| 6 | | Ringen um einen neuen geistigen Standort noch offen ist, und niemand vermag zu sagen, |
| 7 | | nach welcher Richtung hin sich das nationale und europäische Schicksal des deutschen |
| 8 | | Volkes in der Zukunft entwickeln wird. Diese innere Unsicherheit gegenüber der eigenen |
| 9 | | Vergangenheit wie der Zukunft hat zu einem Unbehagen an der Geschichte geführt. Es |
| 10 | | geht weit über die heftige Kritik an der deutschen Entwicklung seit Friedrich dem |
| 11 | | Großen hinaus, die unmittelbar nach der Niederlage von 1945 in Deutschland gang und |
| 12 | | gäbe war. Fast könnte es scheinen, als ob den Deutschen, vor allem denen in der |
| 13 | | Bundesrepublik, langsam jedes Geschichtsbewußtsein abgehe, während demgegenüber |
| 14 | | die Deutschen jenseits von Elbe und Werra die eigene Geschichte nur noch in |
| 15 | | marxistisch-leninistischer Sicht zu sehen vermögen. |
2 | 16 | | In einer solchen Lage mag die Frage berechtigt sein, ob die Deutschen nicht gut |
| 17 | | daran tun, ihre nationale Geschichte über Bord zu werfen, um sich dadurch um so |
| 18 | | unvoreingenommener für ein Aufgehen in einer übernationalen Gemeinschaft bereit zu |
| 19 | | machen. Wollte man eine solche Haltung bejahen, würde man jedoch übersehen, daß es |
| 20 | | ganz wesentlich zum Menschen gehört, nicht nur Geschichte zu haben, sondern sich auch |
| 21 | | seiner Geschichtlichkeit bewußt zu sein. Zudem müßte der Deutsche sein Schicksal, in |
| 22 | | eine bestimmte Gemeinschaft hineingeboren zu sein , verleugnen. Aber auch als Europäer |
| 23 | | würde er Europa verfehlen, wenn er sich nicht über die eigentümliche Geschichte |
| 24 | | Europas klar ist. Denn jedes Volk dieses Kontinents hat seine ihm eigene, geschichtlich |
| 25 | | geprägte Individualität. Darin liegt zweifellos der große kulturelle Reichtum und die |
| 26 | | bedeutende kulturelle Vielfalt Europas begründet, aber es kann auch nicht übersehen |
| 27 | | werden, daß die Überbetonung der nationalen Individualität die Ursache zahlreicher |
| 28 | | europäischer Kriege gewesen ist. So steht Europa heute vor der Frage, ob es seinen |
| 29 | | Völkern gelingen wird , in der Eigenprägung da s gemeinsam Europäische wieder sichtbar |
| 30 | | werden zu lassen, um zu einem neuen europäischen Gemeinschaftsbewußtsein zu |
| 31 | | gelangen. |