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Die Trophäe des kleines Mannes

Die Trophäe des kleinen Mannes ?

Harry Pross (Herausgeber): »Kitsch«. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage. München 1985
11    DaG etwas Kitsch sei, qualifiziert nicht nur ein gestaltetes Objekt, es bewertet vor
2 allem auch seinen Schöpfer und seinen Benutzer. Dem Kit sch haftet weit stärker al s
3 anderen geschmacklichen Gesichtspunkten wie etwa der Mode ein soziales Stigma an.
4 Der vorliegende Band kann deshalb konsequent bei der Definition den meist fruchtlosen
5 ästhetischen Streit vermeiden und die Indizien bei den sozialen und politischen
6 Bedingungen sammeln. Der Herausgeber selbst bringt den Kitsch auf den sachlichen
7 Punkt, wenn er das Wort herleitet vom schnellen Malen der Schwabinger Künstler urn
8 1880 und von deren ebenso schnellem und billigem Verkaufen, dem Verkitschen. Damit
9 wäre die Herkunft des Begriffs klar, und die ursprüngliche Bedeutung als Kunstersatz
10 auf der Basis der Massen- oder Serienherstellung ist noch heute gültig.
211    Differenzen über die Zuordnung sind damit nicht vom Tisch. Zudem wird man die
12 wohlfeile Ersatzbefriedigung nicht pauschal ablehnen können, solange echte Kunst
13 schon aus ökonomischen Gründen nicht jedem zugänglich sein kann. So stellt die
14 Etikettierung des Kitschs als Trophäe des kleinen Mannes, wie sie Harry Pross am
15 Beispiel der Souvenirs notiert, natürlich eine Abwertung dar. Zugleich aber wird die
16 Notwendigkeit solcher an die Umwelt angepaßten Seelentröster deutlich. Partei ergreift
17 da Philipp Wambolt in seinem Beitrag, wenn er die Bilder vom röhrenden Hirsch oder
18 die zu groû geratenen Sessel in der Etagenwohnung als Protest gegen die Enge der
19 Lebensverhältnisse wertet.
320    Ist der Kitsch in der gestalteten Umwelt - in der Kunst wie im Produktdesign und
21 in der Architektur - offenbar, wird seine Präsenz in der Sprache und im öffentlichen
22 Ritual kaum bewuût wahrgenommen. Der Kommunikation durch gefällige oder
23 imponierende Wendungen entspricht die Unehrlichkeit des Pathos in Ansprachen und
24 Verlautbarungen.
425    Einbezogen in solche Rituale wird das Publikum durch gelenkte Massenerlebnisse.
26 Mit der Vermittlung eines Gemeinschaftsgefühls wird der Mensch für eine Sache
27 aktiviert, die nicht unbedingt die seine ist, während seine Emotionen für die gemeinsame
28 Sache mobilisiert und ihren natürlichen Bereichen entfremdet werden. DaG diese
29 Lenkungsmechanismen auch in den Demokratien gebräuchlich sind, wird von Michael
30 Hofmann am Beispiel von Flaggenzeremonien und sportlichen Großveranstaltungen
31 belegt.
532    Die anbiedernde' Anpassung an vermeintliche Markterfordernisse inspiriert die
33 Wirtschaft und deren Produktgestalter zu ihren geschmacklichen Entgleisungen, so stellt
34 Jan Kotik in seinem Aufsatz »Kunst, Kitsch und Design « fest. Unter dem Zwang zu
35 überregionaler Distribution ersetzen sie originäre Stilelemente durch einen Einheitsstil,
36 Das »einfache Volk« hat die stereotypen Raster aus Symbolen und Motiven nicht
37 erfunden, wie die Qualität der Bauernkunst belegt, sondern eine elitäre Kreativen-Kaste.
38 Kotik wirft den Absatzplanern und ihren Designern überheblichkeit gegenüber den
39 Nutzern ihrer Produkte vor . Würden sie sich mit ihrer »Zielgrup pe« identifizieren, statt
40 sich über ihr zu wähnen, so wie ein Autor auch der potentielle Leser seines Buchs sein
41 sollte, würden sie mit ihrem Engagement dem Produkt auch eine ehrliche Optik geben.
642    Die Entscheidung zwischen Kitsch und Kunst wird gewiß auch von einer Diktatur
43 des guten Geschmacks mitgetragen. Wer sich dagegen auflehnt, riskiert Imageverlust.
44 Und dass diese Entscheidung nicht allein von den ästhetischen Qualitäten eines Objekts
45 abhängt, sondern auch von seiner Herkunft und seiner Bestimmung, das macht das
46 Phänomen Kitsch ein wenig unberechenbar. Dafür kann der Kitsch durch das sich
47 wandeinde ästhetik-Verständnis wieder rehabilitiert werden, und die zeitliche Distanz
48 wird den Geschmacklosigkeiten jeder Epoche zumindest das Etikett eines
49 anbiedern zich opdringen, in 't gevlij trachten te komen, aanpappen
50 stilgeschichtlichen Dokuments verleihen. Die ursprüngliche Verdammnis de s Jugendstil s
51 ist längst verge ssen, die unoriginel1en Schöpfungen der Gründerze it geni eûen he ute
52 Denkmal schutz, und auch den schwellenden Formen der fünfziger Jahre werde n nun die
53 Ehren einer zumindest bemerkenswerten Epoche zuerkannt.
noot 1:
anbiedern = zich opdringen, in 't gevlij trachten te komen, aanpappen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.10.1985