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Erziehung

Erziehung

11    Erziehung gehört zum Leben. Sie ist durch nichts zu ersetzen und hört im Grunde
2 nie auf. Auch ihre Ziele bleiben grundsätzlich dieselben und können nicht, wie dies
3 irrtümlicherweise immer wieder behauptet wird, aus kurzfristigen zeitlichen und
4 gesellschaftlich bedingten Bedürfnissen abgeleitet werden. Ziel jeder Erziehung ist der
5 selbstverantwortliche und gemeinschaftsfähige Mensch, dem das Leben über das
6 Verpflichtetsein hinaus zudem Erfüllung bedeutet. Fremderziehung und Selbsterziehung
7 müssen beide auf dieses Ziel hin wirken, auch wenn die Formen und Akzente dabei
8 unterschiedlich sind.
29    Fremderziehung ist insoweit erforderlich, als der heranwachsende Mensch in
10 Ermangelung eines eigenen gereiften Willens sich vorerst dem Willen eines Erziehers
11 unterziehen muß, Sie kommt nicht ohne Gehorsamsforderung, Anleitung von
12 Umgangsformen und Regeln des Zusammenlebens aus. Manches muß dem Kind
13 zugemutet werden, was es noch nicht von sich aus für seine Reifung als notwendig
14 einsieht. Doch Fremderziehung hat nur so lange ihre Berechtigung, als die allmählich
15 einsetzende Selbsterziehung dafür noch nicht ausreicht. Fremderziehung kann lediglich
16 äu ûere Erfahrung anbieten oder durchsetzen. Das Kind unterzieht sich zunächst aus
17 Gründen der Zweckrnäûigkeit oder aus Zuneigung zur Erzieherperson bestimmten
18 Anordnungen. Ob es die übernommene Lebenstechnik für sich selbst als hilfreich und
19 sinnvoll betrachtet, hängt von der persönlichen, inneren Erfahrung ab. Innere Erfahrung
20 ist Sinneinsicht. Was sich im Leben bewährt, strebt man aus eigenem Entschluû wieder
21 an. Was einen dauerhaft und in der Tiefe anspricht, sucht man stets von neuem auf.
22 Innere Erfahrung ist Sache jedes Einzelnen. Darum sind äu ûere Erfahrungen mittels
23 Gewöhnung, Gehorsams oder Erwerbs von Kenntnissen und Fertigkeiten zwar ein
24 möglicher Anstoû, aber kein Garant für innere Erfahrung. Mündig ist der Mensch, der
25 au s eigener Sinneinsicht verantwortlich handelt. Solange Sinneinsicht noch fehlt, ist
26 Fremderziehung nötig und Selbsterziehung noch nicht möglich . "
327    In letzter Zeit ist sehr viel mehr von Selbstverwirklichung als von Selbsterziehung
28 die Rede. Ja man könnte geradezu sagen, je mehr die Selbstverwirklichung zum
29 Lebensprinzip erhoben wird, desto weniger hat Selbsterziehung im Leben noch Platz.
30 Hinter dies en beiden Maximen steeken nämlich zwei grundverschiedene
31 Lebenshaltungen. Wer aufSelbstverwirklichung bedacht ist, geht von der Annahme aus,
32 im Menschen sei alles, was zu entwickeln sei, bereits vorgegeben und bedürfe nur
33 günstiger äu ûerer Bedingungen, um sich im vorgeplanten Sinne auszugestalten. Ist dies
34 nicht möglich, so wird gefolgert, dann liege es an den ungünstigen Verhältnissen, die
35 solche Entfaltung verhinderten. Nach Selbstverwirklichung strebende Menschen laufen
36 Gefahr, vorrangig auf das eigene Wohl bedacht zu sein und Forderungen, die
37 unabhängig von ihrer subjektiven Disponiertheit bestehen, allenfalls als Zumutungen
38 von sich zu weisen.
439    Wer hingegen Erziehung als einen lebenslangen Prozefs ansieht, während dessen
40 lediglich die Fremderziehung allmählich von der Selbsterziehung abgelöst wird ,
41 betrachtet sich selbst als ergänzungsbedürftig und sein Leben als einen wechselseitigen
42 Prozeû zwischen Mensch und Welt, in der sich das Subjekt stets wieder neu zu bewähren
43 hat. Wer nur auf Selbstverwirklichung bedacht ist, anerkennt keinen andern Maßstab als
44 das eigene Subjekt. Im Selbsterziehungsprozeû ist die Aufmerksamkeit nicht
45 au sschließlich , ja nicht einmal in ausschlaggebender Weise auf das Subjekt gerichtet,
46 sondern dieses vielmehr daraufbedacht, im Dialog mit der Welt etwas zu vernehmen, da s
47 nicht schon im Individuum selbst begründet liegt. Aber dann kann das vordergründige
48 Wohlergehen nicht mehr ausschlaggebender Beweggrund des Verhaltens sein.

Neue Zürch er Zeitung, 30./3.3.1985