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Sowjetgesellschaft

11    Mit dem Hineinwachsen in die Lebensformen einer entwiekelten
2 Industriegesellschaft - jedenfalIs im verstädterten Sektor - haben sich die Probleme der
3 SowjetgeselIschaft gleichsam normalisiert. Der von außen statistisch leicht nachweisbare
4 erhebliche Rückstand im Lebensstandard gegenüber dem Westen und auch gegenüber
5 einigen osteuropäischen Ländern wird von dem unter kaum vergleichbaren anderen
6 Umständen lebenden Sowjetmenschen nicht als be sonders kritisch wahrgenommen.
7 Auch radikal vorgebrachte Unzufriedenheit von Systemgegnern wird sich im Verlangen
8 nach mehr individuelIer Freiheit äußern, aber sie vermochte nach alIem bisher
9 Erfahrenen noch keine realisierbare Alternative zu dem bestehenden System vorzulegen.
210    Nach bisheriger Erfahrung erscheint die auf Verstaatlichung alIer
11 Produktionsmittel beruhende Wirtschaftsordnung als nicht umkehrbar . Auch wenn man
12 davon ausgeht, daß die totale Sozialisierung im Osten nicht ein Ergebnis gesetzrnäßig
13 wirkender Produktionskräfte gewesen ist, wie der historische Mat erialismus
14 philosophiert, sondern dem politischen WilIensakt eines weitbliekenden Genies der
15 nachholenden Industrialisierung entsprang, bleibt im Ergebnis eine Eigentumsordnung,
16 die alIe wirtschaftlichen Individuen wie Zement in die gesamtstaatliche Planung
17 einbindet.
318    Im »realen Sozialismus« sind unter den heutigen Produktionsverhältnissen keine
19 spontanen Regungen sichtbar, die in Richtung auf eine Reprivatisierung wirken. Selbst in
20 liberalen Wirtschaftsordnungen hat der Gesetzgeber Mühe, die WettbewerbsgeselIschaft
21 gegenüber dem Drang konzentrierender Kräfte der Kapitalbildung offenzuhalten,
22 während in den kapitalarmen Entwicklungsländern die Zeichen ohnehin auf
23 Verstaatlichung der Akkurnulationsquellen' stehen. In der USSR gibt es keine
24 erkennbaren Motive einer Reprivatisierung auch nur in einzelnen Sektoren. Dem
25 Kolchos- oder Sowchosarbeiter müßte angesichts der Großmaschinen und
26 unübersehbaren Betriebsflächen eine Eigenwirtschaftjenseits des Horizonts des eigenen
27 Hofgartens als unwirklich erscheinen. Und warum solIten in der Industrie die in die
28 Staatspartei volI integrierten, in einem Kreislauf der Eliten auswechselbaren
29 Technokraten und Direktoren nach pri vater Verfügungsmacht über Werkskomplexe
30 streben, die in dieser Größenordnung im Westen und in Japan nur noch von Großbanken
31 und Kapitalgesellschaften zu steuern sind ? Eine in den 50er Jahren von E. Burnham und
32 anderen den Sowjets vorausgesagte dahingehende »Revolution der Manager« ist
33 jedenfalIs ausgeblieben.
434    Ein sowjetischer Kenner der Lebensverhältnisse entwickelter Industrieländer wird
35 die Vorzüge einer freien Marktwirtschaft, ihrer Innovationskraft und ihres
36 Lebensstandards schätzen und ihr Fehlen in seinem Lande offen bedauern. Aber zu
37 Hause fügt er sich in das Unabänderliche und in die Wertschätzung der sozialen
38 Geborgenheit, die eine tot ale Verwaltung alIer materiellen Verhältnisse selbst auf Kosten
39 bürgerlicher und ökonomischer Freiheiten zu bieten vermag. Solche Erfahrung und nicht
40 der Glaube an die Ideologie ist die Grundlage der Loyalität des Sowjetmenschen.
541    Wenn bei Angehörigen der oberen IntelIigenzschicht Systemreformen etwa als
42 »Verbindung von Plan und Markt« im Stil eines »freiheitlichen« Sozialismus bedacht
43 werden, so sind das Wunschbilder, wie sie anderswo in umgekehrtem Sinn auch gehegt
44 werden.
645    Im übrigen gibt es, gespeist aus den Geldmengen zurückgestauter Inflation,
46 genügend offene (Kolchos-), schwarze und graue Märkte oder außerplanmäßige direkte
47 Werksbeziehungen in einem schwer durchschaubaren, aber ausreichenden Umfang, die
48 dem Sowjetbürger einigen Spielraum geben und als unentbehrliches Schmiermittel de s
49 schwerfälligen Planmechanismus gute Dienste leisten.

noot 1
Akkumulation : Kapitalbildung

aus: Hans Raupach, Wirtschaft und Gesellschaft Sowjet-Ruftlands 1917-1977, Wiesbaden 1979