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Die Kraft der Poesie

LITERATUR Die Lyrikerin Sarah Kirsch erh?lt 1996 den Georg-B?chner-Preis

  kose, ist sein Talent, auch am   85 Autorin soll aber auch den Weg
 entlegenen und klein erschei- nicht unterschlagen, den sie -
40 nenden Gegenstand eine Info- nämlich durch die Eingeweide
 rmation über den Charakter ei- einer an Versuchungen und
 nes Ganzen mitzuliefern. Seine Einschüchterungen nicht ge-
 Texte sind Strukturen, die die90 rade armen DDR - zu gehen
 Welt repräsentieren, Hologram- hatte. »…Dieser Abend, Bet-
45 me einer Gesellschaft. tina, es ist/ Alles beim alten.
 Eine solche Dichterin ist Immer/ Sind wir allein, wenn
 Sarah Kirsch. Sie findet noch wir den Königen schreiben/
 Kein deutscher Litera- im fernsten Winkel ein Bruch-95 Denen des Herzens und jenen/
 turpreis gilt so viel wie stück, das geeignet ist, Zu- Des Staates. Und noch/ Er-
 der Georg-Büchner-50 sammenhänge ahnbar und Zu- schrickt unser Herz/ Wenn auf
 Preis. Er ist mit 60 000 Mark stände transparent zu machen. der anderen Seite des Hauses/
5 nicht nur die höchstdotierte Scheinbar stutzt sie und stol- EinWagen zu hören ist.« Diese
 Auszeichnung - seine Bedeu- pert, wo andere gehen, aber100 zu Recht berühmt gewordenen
 tung ist bereits durch den Na- diese Unbeholfenheit vor- Verse erzählen mehr DDR-
 men vorgegeben, auf den er55 täuschende Gebärde spannt Geschichte als ein Kompen-
 sich beruft: Georg Büchner, ein nur die Leinwand, auf der un- dium von Daten und Fakten.
10 junges Genie, in dem sich ser Zeitfilm erscheint. »…Die- Sie erzählen auch, an welcher
 sprachliche Virtuosität mit ei- ser harte und gnadenlose sehr105 Bewußtseinsgrenze es ein kon-
 nem eminent politischen Be- lange Winter/…alle Rosen/ wa- sequenter Schritt gewesen ist,
 wußtsein vereinte.60 ren auf Jahre erfroren und noch die Grenze des Staates zu über-
 Die Frage, die sich die preis- in kleinen Blättern/ fanden sich schreiten. Wäre Sarah Kirsch
15 vergebende Akademie für Mutmaßungen über kommende keine Dichterin, sondern eine
 Sprache und Dichtung jährlich Kriege.« Ihre hohe Leistung ist110 schreibende Konkubine gewe-
 zu stellen hat, ist demnach nicht es, das Naturgedicht mit Kultur- sen, sie hätte zweifellos in ih-
 abzukoppeln von der Frage, wie65 und Gesellschafskritik verbun- rem »Ländchen« Karriere ge-
 politisch relevant ein Werk sein den und es aus einer Ge- macht und wäre vielleicht noch
20 sollte, um dieser Tradition zu schlossenheit reiner Flora und Vorsitzende von irgend etwas
 entsprechen. Politische Dimen- Fauna in die von Menschen be-115 geworden. Aber dann hieße sie
 sion bekommt ein Text noch wohnte Welt herausgeführt zu auch anders, und wir wüßten
 nicht durch die ehrgeizige Ver-70 haben. Das gibt uns jene Ver- von ihr nichts, wie wir auch von
 wendung eines politisch orien- antwortung und Zuständigkeit Georg Büchner, siehe oben,
25 tierten Sujets. Dieser Fehlschluß zurück, die uns heute im Sy- heute nichts wüßten.
 hat den Begriff des Politischen stem medialer Vernetzung no-120 So ist es eben mit den
 in der Literatur diffamiert und torisch aberkannt werden. Dort Dichtern: Keinem machen sie
 falsche, weil ästhetisch uneinge-75 ist im hin- und herspringenden es recht, nicht einmal den Aka-
 löste Beispiele geliefert. Ande- Spiel von Realität und Fiktion, demien und Clubs der sehr
30 rerseits würden wir Büchner Echtheit und Virtualisierung schönen Künste. So wird mit
 heute vermutlich nicht kennen, das Subjekt in die Rolle einer125 Sarah Kirsch eine Autorin ge-
 hätte er nichts als schön formu- Abwesenheit gedrängt, die in ehrt, in der sich literarisches
 liert. Was den Dichter vom am-80 ihren besten Gedichten abge- Vermögen und Courage un-
 bitionierten Schreiber unter- fangen und aufgehoben wird. trennbar einen und die dafür
35 scheidet, der unter themati- Mehr kann Literatur nicht einsteht, daß Poesie stärker ist
 schem oder formalem Zwang leisten.130 als die Zumutung eines Landes.
 steht wie andere unter Nar- Dieser heutige Blick auf die

Kurt Drawert, in:
Wochenpost, 25.4.1996