Background image

terug

Bergahorn und Borkenkäfer

VON WOLFGANG ROTH

1 Wenigstens darauf ist noch Verlaß an diesem elenden   6 So ist Natur, so war sie immer, wenn der Mensch
 Standort: Sogar in Deutschland ist’s wieder Frühling nicht eingriff. Immer haben die Käfer Bäume zerstört,
 geworden. Wer noch halbwegs bei Verstand ist, der70 wo sie günstige Bedingungen vorfanden, und immer ist
 sucht an den Ostertagen Distanz zu einer aberwitzigen neuer Wald herangewachsen. Nie haben ihn die gefrä-
5 Diskussion über Benzinpreise und Ökosteuern. Stadt- ßigen Tiere ausrotten können, was ziemlich dumm für
 menschen gehen nun mit ihren Kindern in die Strei- sie gewesen wäre, weil sie sich ihrer eigenen Nahrungs-
 chelzoos, damit die Kleinen lernen, wie eine Ziege aus- grundlage beraubt hätten. Den Bayerwäldlern, die ih-
 sieht. Und überall ist Freude über den Gesang der Vö-75 ren Forst lieben, bricht schier das Herz, aber sie müssen
 gel, über die mächtig austreibenden Bäume und Sträu- damit leben, daß ein Nationalpark allen gehört. Und sie
10 cher. werden auch in Zukunft ganz gut mit diesem National-
2 Dies ist eine gute Zeit, sich mit den Tieren und Pflan- park leben können, weil die Touristen weiterhin kom-
 zen zu beschäftigen, mit dem guten alten Naturschutz, men, um Zeugen eines spannenden Naturschauspiels
 von dem im Wahlkampfgetöse kaum mehr die Rede80 zu werden: wie sich ein maroder Wald verjüngt, ganz
 sein wird. Reden wir also über Bäume, zum Beispiel ohne das Wirken des Försters; wie einmal Urwald aus-
15 über diesen wunderschönen Bergahorn, der in irgend- gesehen haben könnte; an welchen Kriterien ein Natio-
 einer deutschen Großstadt steht. Die Kommune will nalpark ausgerichtet ist, der als einziger in Deutschland
 dort ein Sozialzentrum mit Kindergarten errichten, dem internationalen Standard gerecht wird.
 aber daraus kann nichts werden, denn der Baum steht785 Ein Borkenkäfer ist bei weitem nicht so süß wie ein
 unter dem Schutz einer kommunalen Verordnung. Die Yorkshire-Terrier. Auch das Verhältnis der Menschen
20 meisten Nachbarn finden das prima, nur die alleiner- zu den Tieren ist stark von Gefühlen geprägt. Füchse
 ziehenden Mütter nicht, die verzweifelt einen Kinder- sollen, da sie in manchen Gegenden überhand nehmen,
 gartenplatz suchen. in Massen geschossen werden; wer sich mit dem Pelz
3 Ist was dagegen einzuwenden, wenn der Ahorn fällt90 zeigt, verfällt aber der gesellschaftlichen Ächtung. Wo
 und ein paar Meter weiter drei neue Bäume gepflanzt der Wald Schutz vor Lawinen bieten oder gutes Holz
25 werden? Schon wahr: Es wird lange dauern, bis die liefern soll, müssen die Rehe dezimiert werden; die das
 Setzlinge zu dieser imposanten Größe herangewachsen tun, werden als „Bambi-Mörder“ verfolgt. In aller
 sind, viel länger als ein Menschenleben. Aber es ist Heimlichkeit müssen Berufsjäger nächtens durch die
 auch wahr, daß der Veteran einmal von jemandem ge-95 Parkanlagen schleichen, weil die herangemästeten Was-
 pflanzt wurde und daß dieser Jemand nicht nur an sich, servögel Seen und Teiche zum Umkippen bringen. Und
30 sondern auch an die Nachwelt dachte. Ein ziemlich alt- in den Städten sorgen die Tierschutzvereine dafür, daß
 modischer Standpunkt offenbar. In langen Zeiträumen eine widernatürliche Taubenpopulation heranwächst.
 und in größeren Zusammenhängen zu denken, ist der Mit Naturschutz hat das alles nichts mehr zu tun, eher
 Hier-und-jetzt-Spaßgesellschaft nicht gegeben. Auch100 schon mit der Dekadenz einer Gesellschaft, die den
 deshalb ist es so schwierig, eine Klimaschutzpolitik ein- ständigen Drang hat, aus scheuen, wilden Wesen
35 zuleiten, die auf ein halbes Jahrhundert angelegt sein Kuscheltiere zu machen.
 muß.8 Da verwundert es nicht, daß die Jägerschaft mittler-
4 Natürlich soll kein schöner, alter Baum ohne Not ver- weile einen schweren Stand hat. Einerseits schwindet
 schwinden, aber ein Kindergarten ist ein gutes Argu-105 der Konsens darüber, daß Wildtiere eine natürliche
 ment. Mit urbanem Naturschutz, mit einer vernünftigen Ressource sind, die es in Maßen zu nutzen gilt. Zum
40 Stadtökologie hat der Einsatz für einen einzelnen anderen fehlt aber vielen Jägern auch die Einsicht, daß
 Baum nur am Rande zu tun. Maßgeblich muß sein, daß der von der Feudaljagd bis zum Reichsjägermeister
 der Baumbestand insgesamt zunimmt, daß grüne Inseln Hermann Göring gepflegte Trophäenkult heutzutage
 vernetzt und Frischluftschneisen erhalten werden. Es110 ziemlich lächerlich wirkt. Schwerer wiegt noch, daß die
 kommt auf die Masse an. „Meinen“, „deinen“ Baum an Trophäen ausgerichtete Wildhütung in diametralem
45 kann es für Stadtplaner nicht geben, nicht auf öffentli- Gegensatz zu den Zielen des Naturschutzes steht. Es ist
 chem Grund, nicht bei rationaler Abwägung gesell- deshalb abzusehen, daß mittelfristig nur noch eine aus-
 schaftlicher Interessen. Das können manche Natur- schließlich an ökologischen Kriterien orientierte Jagd
 freunde nur schwer verstehen, weil sich ihr Verständnis115 eine Existenzberechtigung haben wird.
 von Artenschutz sozusagen auf den Vorgarten be-9 Dem Hasen wird das nicht viel helfen; ihn hat in er-
50 schränkt. ster Linie die intensive Landwirtschaft in die Rote Lis-
5 Für andere ist die Natur ein Garten Eden, wie ihn die te der gefährdeten Arten gebracht. Darüber denken die
 Zeugen Jehovas verheißen: Der Löwe läßt sich vom Menschen nach, wenn gerade Ostern ist. Ist Ostern
 Menschen streicheln und liegt friedlich neben dem120 vorbei, herrscht wieder Wahlkampf, dann wird nicht
 Lamm. Manche wollen ihrer Katze sogar das Mäuse- mehr über Bäume und Tiere diskutiert, sondern über
55 fangen abgewöhnen. Daß ein derart idyllisierendes Na- Ökosteuern. Das hat dann indirekt auch mit Natur-
 turbild so verbreitet ist, erstaunt sehr, weil gleichzeitig schutz zu tun, ist aber hohe Politik. Ökosteuern heißen
 auf allen Fernsehkanälen wilde Jagden stattfinden. Da Energiesteuern, wenn sie seriös sein sollen. Hohe Poli-
 ist ein ewiges Reißen und Meucheln - Gepard gegen125 tik besteht darin, solche Energiesteuern jahrelang in
 Gazelle, Jaguar gegen Wasserschwein. Reden wir also Parteiprogrammen zu verankern, weil damit am besten
60 von den Wäldern, genauer: vom Nationalpark Bayeri- gesichert ist, daß sie nie über ihr programmatisches
 scher Wald. Kein schöner Anblick, fürwahr, was die Dasein hinauskommen. In Wahljahren muß dennoch
 Borkenkäfer dort in den Höhenlagen angerichtet ha- vehement bestritten werden, daß es ein solches Pro-
 ben. Es ist dies aber nun mal kein Nutzwald, sondern130 gramm gibt. Wer zuwiderhandelt, schmälert die Wahl-
 ein kleines Stück Land, in dem sich Natur weitgehend chancen. Er darf genannt werden: ein Träumer, der die-
65 unbeeinflußt von Menschenhand entwickeln soll. Und sem elenden Standort weiter schadet.
 es ist dies auch der einzige Nationalpark Deutschlands, 
 in dem eine solche Entwicklung zu studieren ist. Süddeutsche Zeitung, 11./12./13.4.1998