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Angstmacher Wissenschaft

1 Dies ist ein paradoxes Land:   60 nis, daß - nach derselben Um-    obwohl diese Neutronenquelle
 Jeder weiß und jeder sagt es, daß frage - nur vier von zehn Deut-120 keineswegs allein der zweckfrei-
 Wohlstand und innerer, sozialer schen die Technik „eher als einen en Forschung dienen, sondern
 Frieden entscheidend davon ab- Segen“ ansehen, die Mehrheit auch relativ schnell praktisch
5 hängen, wie gut sich Wissen- aber sich unentschieden bis tech- nutzbare Erkenntnisse liefern
 schaft und Technik im internatio-65 nikfeindlich zeigt? Vielleicht ist soll. Mit der angewandten ist
 nalen Wettbewerb behaupten. es ja so: Gerade weil uns nur zu125 auch die Grundlagenforschung in
 Weil Deutschland von der Natur gut bewußt ist, wie sehr unser den Verdacht geraten, unbere-
 nicht mit Ölvorkommen oder an- Leben und unser Lebensstan- chenbar, unkontrollierbar gewor-
10 deren Schätzen gesegnet ist, dard von Wissenschaft und Tech- den zu sein. Und der Umstand,
 bleibt ihm da gar keine Alterna-70 nik abhängen, und weil wir auf daß Wissenschaft in vielen Diszi-
 tive. Das heißt aber noch lange vielen Gebieten international130 plinen nicht mehr vom einzelnen
 nicht, daß daraus auch die Kon- mitgehalten haben und teilweise Forscher in seiner Studierstube,
 sequenzen gezogen würden. noch mithalten können, haben in seinem Labor betrieben und
215 Bei einem Münchner Profes- sich auch Technikskepsis, ja auch verantwortet wird, sondern
 sor verstauben seit geraumer75 -feindlichkeit hier besonders komplexe Projekte von Forscher-
 Zeit die Manuskripte für drei ausgeprägt. Wissenschaft lebt135 kollektiven initiiert und betreut
 Bücher. Wenn er - eine Mi- vom Fragen, aber auch vom werden, so daß klare Verantwor-
 schung aus Resignation und Ver- Zweifel. Und auch als Skeptiker tung sich nur schwer ausmachen
20 bitterung - aufs Publizieren ver- und Zweifler nehmen wir inter- läßt, hat die gegenseitige Be-
 zichtet, hat das seine Gründe:80 national einen der ersten Plätze fangenheit und die Sprachlosig-
 Seit Jahren verfolgt er mit wach- ein. Unsere Nachbarn vermögen140 keit zwischen Wissenschaft und
 sender Sorge, wie naturwissen- diese Vorbehalte und Ängste Gesellschaft nur noch gefördert.
 schaftliche Disziplinen verküm- manchmal kaum nachzuvollzie-6 Jüngstes Opfer: die Gentech-
25 mern, wie sie vom Fiskus mehr hen - die Franzosen zum Bei- nik, der man jeden Unfug und
 und mehr ausgehungert werden,85 spiel lachen nur, wenn sie von jeden Horror zutraut - von der
 wie die Studenten ausbleiben, den deutschen Sorgen wegen des145 kernlosen Wassermelone bis zur
 wie Lehrstühle verschwinden, sogenannten Elektrosmogs hö- Erschaffung eines idealen neuen
 ohne daß sich öffentlicher Pro- ren, der womöglich unsere Ge- Menschen. Vermutlich zu Recht
30 test erheben würde, und bewähr- sundheit ruiniert. hat Professor Wolfgang Früh-
 te Leistungsprinzipien aufgeho-590 Nun ist es ja nicht so, daß unse- wald, der Präsident der Deut-
 ben werden. re Skepsis immer nur von Vorur-150 schen Forschungsgemeinschaft,
3 Man kann - den Erfahrungen teilen, Mißtrauen und Kleinmut kürzlich gesagt, die Einstellung
 dieses Wissenschaftlers zum bestimmt, daß sie ganz und gar der deutschen Öffentlichkeit zur
35 Trotz - uns Deutschen nicht irrational und unbegründet wäre. Genforschung werde sich erst
 nachsagen, wir wüßten den Wert95 Die Folgen der praktischen An- dann von Grund auf ändern,
 unserer Schulen, Universitäten, wendung wissenschaftlicher Er-155 wenn es zum erstenmal gelungen
 Forschungslabors nicht zu schät- kenntnisse (nicht nur zu militäri- sei, eine Krebsart durch gentech-
 zen. Als Infratest im Auftrag der schen Zwecken) haben nicht erst nische Behandlung zu besiegen.
40 Süddeutschen Zeitung bei einer seit Tschernobyl für eine - meist Der Gedanke ist keineswegs uto-
 repräsentativen Umfrage Ende100 latente, manchmal akute - pisch, doch so sehr dieser Erfolg
 vergangenen Jahres wissen woll- Alarmstimmung gesorgt, und das160 der gentechnischen Forschung zu
 te, auf welchen Gebieten die immer wieder durchaus zu Recht. ersehnen ist, so zweifelhaft wäre
 Deutschen ihr Land gerne im in- Allerdings ist es gerade diese es, wenn Ansehen und Wert-
45 ternationalen Spitzenfeld wüß- Alarmstimmung, die das sach- schätzung der Wissenschaft allge-
 ten, wurden Wissenschaft und105 liche Abwägen so schwermacht. mein von solchen Triumphmel-
 Technik weit oben auf der Man nehme den Plan, für die165 dungen abhingen.
 Wunschliste plaziert - weit vor Technische Universität München7 Wissenschaft muß zweckfrei
 Glanzleistungen von Musikern, einen neuen Forschungsreaktor und selbstbestimmt sein - nur
50 Theaterleuten, Sportlern oder zu bauen: Die Argumente und dann kann sie erfolgreich arbei-
 Autoren, mit denen sich in der110 Scheinargumente, die gegen die- ten und fundamentalistische Ver-
 Welt renommieren ließe. Noch ses Projekt sprechen, sind - das170 suchungen abwehren, sie zu re-
 höher in Rang und Ansehen müssen sich Wissenschaftler, Po- glementieren. Außer Geld
 steht nur, was man sich von Wis- litiker und Medien gleicherma- braucht sie auch diese Sicherheit,
55 senschaft und Technik erhofft: ßen zuschreiben - öffentlich viel damit sie gegenüber dieser Ge-
 außer Umweltschutz eben soziale115 eindringlicher und wirksamer sellschaft offen und selbstbewußt
 Sicherheit, Lebensstandard, vermittelt worden als die wissen-175 auftreten kann. Nur so vermag
 Wirtschaftskraft. schaftlichen und praktischen An- sie den Beitrag zu leisten, den wir
4 Wie paßt es zu diesem Ergeb- liegen der künftigen Betreiber, uns zu Recht von ihr versprechen.

Süddeutsche Zeitung,
12./13.10.1996