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Rein, frisch un langweilig

Genmanipulierte Tomaten, aromatisierter Fruchtjoghurt:
Längst ist all der Kunstfra? selbstverst?ndlich geworden. Jetzt fordern die Verbraucher eine Kennzeichnung der manipulierten Lebensmittel. Aber das ist Quatsch.


1 Die Konsumenten, vor allem die deutschen,    d'Origine Contrôlée) auch auf Lebensmittel
 fürchten nichts so sehr wie gesundheitsschädliche ausdehnt. Nur etwa zehn Prozent der Weine
 Zusätze in Lebensmitteln. Hormone im Fleisch, bekommen das Siegel. Noch strenger ist die
 künstliche Gene im Rhabarber oder Kunstaromen in Auswahl bei den Nahrungsmitteln. Erstaunlich,
5 allem, was verpackt ist - der Katalog der Zusätze in50 weil es sich ja nur um französische Spitzenprodukte
 unserer Nahrung ist schon heute endlos und handelt, deren Erzeuger seit Generationen
 vergrößert sich immer schneller. Die Verbraucher überzeugt sind, die weltbesten Käse, Austern oder
 fordern dringend eine Kennzeichnung der Lebens- Hühner zu liefern, und deren Käufer genauso
 mittel, die irgendwie manipuliert sind. Die denken. Dennoch sind seit 1990 nur drei zusätzliche
10 Nahrungsmittelindustrie ist aus verständlichen55 Produkte mit dem Gütesiegel ausgezeichnet
 Gründen dagegen. Ich auch. worden: die Oliven aus Nyons, das Olivenöl aus
2 Weil es wenig bringt. Eigentlich gar nichts, außer Nyons und die Linsen aus Puy. Die Inspektoren von
 der trügerischen Zuversicht, daß es eine Warnung AOC verlangen nämlich nicht nur eine hohe,
 vor Zusätzen gibt. Doch was sagt uns das? Gewarnt sondern auch eine unverwechselbare Qualität.
15 werden wir ständig. Regierungen warnen vor der560 Wir könnten uns glücklich schätzen, wenn bei uns
 Opposition, Kirchen vor Kondomen, der ADAC vor eine ähnliche Auszeichnung für bloße Qualität
 Bäumen, das Komitee zur Reinhaltung der Brillen- vergeben würde; die regionalen Unterschiede
 gläser und die Friseure - alle warnen uns Tag und zwischen holsteinischem und bayerischem
 Nacht vor falschem Verhalten. Beim Aufstehen Griebenschmalz dürften auch die feinsten Zungen
20 warnt uns das Radio vor dem Stau auf der Auto-65 kaum herausschmecken. Es wäre der Beginn einer
 bahn, das Frühstücksfernsehen vor einem abstür- Klassifizierung, die zunächst anspruchsvollen
 zenden Satelliten und noch mehr Arbeitslosen; die Essern bei der Suche nach dem Genuß helfen
 Zeitung warnt vor rumänischen Räuberbanden, vor würde, vor allem aber den vielen Gesundheitsfreaks
 dem Ozonloch, vor Aids, vor Urlaub in Kurdistan das Zittern abgewöhnen könnte, wenn sie die Hand
25 und so weiter. Wir leben auf einem Pulverfaß mit70 nach einem Apfel oder einem Sack Kartoffeln
 brennender Lunte. Die einzigen, die uns davon ausstrecken. Die Zahl der davon profitierenden
 abzulenken versuchen, sind Werbebüros, und denen Konsumenten wäre groß. Nur leider ist die Macht
 glauben wir schon lange kein Wort mehr. Also essen der sich davor fürchtenden Großagrarier und
 wir unser Müsli und wundern uns, daß wir nicht Tiermäster noch größer. Und was schließlich die
30 auf der Stelle tot umfallen.75 Nahrungsmittelgiganten davon halten, kann man
3 Was nützt es also, wenn auf siebzig oder neunzig sich vorstellen.
 Prozent aller Nahrungsmittel draufsteht, womit sie6 Also keine Chance für eine Verbesserung unserer
 gefärbt, aromatisiert und haltbar gemacht sind? Lebensmittel? Ein Chemiker schrieb mir kürzlich:
 Vielmehr müßten jene kenntlich gemacht werden, »Unsere Nahrungsmittel waren noch nie so rein, so
35 die nicht manipuliert sind. Also Produkte ohne80 vielfältig und so frisch wie heute.« Mit »rein« meint
 Zusätze; Fleisch von Bio-Bauern, Milchprodukte er sauber, bakterienarm. Dagegen läßt sich nichts
 ohne Aromen, Kunstdüngerbeschränkung bei einwenden. Die Vielfalt ist - wie die Reinheit - aber
 Gemüse und so weiter. Das wird Fertigprodukte auch das Resultat maschineller Manipulation, und
 wohl von vornherein ausschließen. Aber die frisch sind die Sachen nur, weil Vierzigtonner sie
40 Angsthasen unter den Verbrauchern wüßten dann85 quer durch Europa karrten. Doch ich will dem
 wenigstens, woran sie sind. Mann nicht widersprechen. Ich möchte lediglich
4 Das Ganze ist keine graue Theorie. In Frankreich, hinzufügen: Nie waren unsere Nahrungsmittel so
 wo die Konsumenten keineswegs von Ängsten langweilig und so künstlich wie heute.
 geplagt sind, hat man bereits 1990 ein Gesetz 
45 erlassen, das das Wein-Gütesiegel AOC (Appellation Wolfram Siebeck, in: Die Zeit, 12.4.1996