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Sinndichte durch die Schreibmaschine

 SVEN BIRKERTS: Die Gutenberg-    Birkerts heftig dafür ins Zeug.    aeternitatis“ zurückzuschrecken.
 Elegien. Lesen im elektronischen Lesend, schreibt er, lernen wir Ausgiebig spielt er die Flüchtig-
 Zeitalter. Deutsch von Kurt Neff. „aus dem ungebundenen Um- keit des Schreibens am Computer
 Verlag S. Fischer, Frankfurt 1997. 320 herschweifen außerhalb unserer130 gegen die „Sinndichte“ der
 S., 34 Mark.65 gewohnten Ich-Grenzen“ und Handschrift aus - oder der
  werden behutsam dazu verführt, Schreibmaschine wenigstens, be-
 Lesen bildet, hat es früher ge- „auf unseren gesamten Bestand nutzt er doch selbst eine. Seine
 heißen. Deshalb sei es nützlich an vorgefestigten Einstellungen Argumentation macht mitunter
 fürs Leben. Doch nützlich sind und vorgefaßten Meinungen“ zu135 den Anschein, als ob er durch
 heute Computer-Kurse, Sharehol-70 verzichten. Lesen wirkt demnach seine bildungsbürgerliche Brille
5 der- Seminare und kreative Frei- über die Lektüre hinaus fort. nicht wahrhaben will, daß die
 zeittechniken. Dagegen hat es das Ähnlich den Erinnerungen keh- umtriebige Jahrhundertwende ein
 Lesen schwer. ren die Lese-Erfahrungen schat- paar Jährchen, und die romanti-
 Lesend genügen Lesende sich tenhaft zurück.140 sche Beschaulichkeit noch etwas
 selbst. Sie sind nicht verfügbar,75 Allein, klagt Birkerts, dieser länger zurückliegt. Monokausale
10 also eigensinnig. Ihre konzen- „Tiefenraum des Lesens“ ist seit Erklärungsmuster überkleistern
 trierte Versunkenheit macht sie dem Aufkommen seichter elek- letztlich den Facettenreichtum,
 immun gegen die Ansprüche tronischer Medien zusehends in mit denen die Beschreibungen
 hausbackener Nützlichkeit und Gefahr. In Anlehnung an Mar-145 des Leseprozesses zu gefallen
 käuflicher Zerstreuung. Vielmehr80 shall McLuhans Gutenberg-Ga- wissen.
15 scheinen sie die „vertane“ Zeit laxis leitet er aus dieser Beobach- Daß Sven Birkerts davon
 auf innigste Weise für sich zu tung die These ab, daß die mo- sichtlich mehr versteht als von
 nutzen. Wer’s kennt, sehnt sich derne Informationstechnologie den neuen Medien, demonstrie-
 nach dieser Flucht, die zugleich das großartige Erbe der Guten-150 ren abschließend seine Auslas-
 ein Nachhausekommen ist, wer85 berg-Kultur zerstöre. sungen über die digitale Vermas-
20 draußen bleibt, kann durch die Mit blutendem Herzen zieht er sung in der Technokultur. Das
 Versunkenheit irritiert und pro- daher in eine Schlacht, „nach de- eigentliche Problem liegt freilich
 voziert werden. Sie enthält etwas ren Ende alles, was mit dem Le- gar nicht da, wo er es zu finden
 Gefährliches und Verwerfliches. sen und Schreiben und Verlegen155 glaubt, sondern in der Vereinze-
 Von Kindesbeinen an haben90 von Büchern zu tun hat, nicht lung. Homeworker und Netsur-
25 wir alle die Lektion vom „richti- mehr wie früher sein wird“. Die fer koppeln sich von persönli-
 gen Leben“ eingeimpft erhalten. kriegerische Metapher ist nicht chen Kontakten ab, um sich ak-
 Auch wenn sich hinter dieser Zufall, denn der sensiblen Be- tiv in die weltumspannende
 Formel kaum mehr als vage schreibung des Leseprozesses160 Kommunikation einzuwählen.
 Plattheiten verbergen, hat sie sich95 steht eine eher grobschlächtige, Internet ist ein Arbeitsmittel, das
30 nun zum kollektiven Credo ver- apodiktische Medienanalyse gegenüber. sie bewußt einsetzen - das aller-
 festigt. Spielplatz, Stammkneipe Im Verständnis Birkerts’ dings auch vergessen machen
 oder Supermarkt - das „wirkli- stört, ja zerstört der rasende kann, daß die darin ausgespielte
 che Leben“ wird eher solchen Wandel eine alte Ordnung, die in165 Individualität nur vorgespiegelt
 Örtlichkeiten zugewiesen als dem100 der Druckzeile sowie in Begriffen ist: weil sie nicht unmittelbar mit
35 Zustand der Lese-Kontempla- wie Logik und Nachvollziehbar- anderen geteilt, anderen mitge-
 tion. Doch dieses Leben ist keit ihren prägnantesten Aus- teilt wird.
 zeitlich wie örtlich beschränkt, druck gefunden hat. Birkerts Solche Einwände gegen Bir-
 während Bücher die Erfahrungs- sieht in der Wendung von der170 kerts’ Elegien wecken den Ver-
 welt erweitern und Lektüren neue105 Drucktype zum binären Signalco- dacht, daß seine nostalgisch im-
40 Wahrnehmungs- und Reflexions- de den Verlust der sinnlichen Ma- prägnierte Fundamentalkritik an
 räume eröffnen. terialität zugunsten elektromag- der Mediengesellschaft nicht sehr
 Zuallererst lesen Lesende also netischer Verflüchtigung. Es fällt weit hilft. Dennoch verdient die-
 (in) sich selbst. Literatur liefert auf, daß er dabei gern das Ideal175 ses Plädoyer fürs Lesen Respekt.
 sprachlichen Stoff, der in der110 am Sündenfall mißt. Er schwärmt Wie weiland die Bücher von Neil
45 Phantasie verwandelt und in von Henry James und Virginia Postman kann es dazu herausfor-
 eigene Bilder übersetzt wird. Pa- Woolf, vergißt aber den Hexen- dern, den Stellenwert der Guten-
 radoxerweise aber wollen Lesende hammer oder die rosa Romane berg-Galaxis im Zeitalter medi-
 damit nicht allein bleiben. Über von Barbara Cartland. Lesen180 aler Digitalisierung umfassend,
 Bücher läßt sich wunderbar115 meint selbstredend die Lektüre differenziert und kritisch zu dis-
50 kommunizieren. Auf die Frage, „wertvoller“ Bücher. Auf der kutieren. Sie zu verteidigen lohnt
 welches Buch er denn auf die ein- anderen Seite unterschlägt er die sich ohne Zweifel, „denn die Li-
 same Insel mitnehmen würde, Speicherkapazität der neuen teratur bleibt das unübertroffene
 hat Peter Bichsel geantwortet: Technologien und deren Zweck-185 Instrument zum Erkunden der
 keines, er könne ja mit nieman-120 mäßigkeit etwa für den wissen- Innenwelt und zum Stiften von
55 dem darüber sprechen. schaftlichen Gebrauch. Zusammenhängen“.
 Solche Qualitäten rechtferti- Im Gefecht gegen die „verfla- 
 gen noch immer ein unzeitgemä- chende“ Medientechnik scheint Beat Mazenauer, in:
 ßes Plädoyer fürs Lesen. In seinen Birkerts auch nicht vor elitärer Süddeutsche Zeitung
 Gutenberg-Elegien legt sich auch125 Überheblichkeit und bürgerlichen 5./6.7.1997
60 der amerikanische Essayist Sven Deutungsmustern „sub specie