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Eine Frage noch

„Eine Frage noch“

Dr. Nicola Döring, selbst
tage- und nächtelang
online, weiß um die
Versuchung des Netzes.
Am Psychologischen
Institut der Uni
Heidelberg arbeitet sie
am Projekt „Virtuelle
Universität Oberrhein“.
 wird, sondern auf psychische und soziale
 Konflikte zurückgeht, die die Betroffenen
 bereits mitbringen. Wenn eine Frau ihre
50 Familie vollkommen vernachlässigt und
 ganz in ihren Online-Flirts aufgeht, ist es
 nur eine Scheinerklärung, sie kurzerhand
 als „internetsüchtig“ zu bezeichnen. In
 Wirklichkeit sucht sie vielleicht erotische
55 Abwechslung, will sich den Konflikten
 mit ihren pubertierenden Kindern entzie-
 hen oder depressive Verstimmungen be-
 kämpfen. Wenn ein Student sich an Dut-
 zenden von Diskussionsforen im Netz
 Frau Döring, macht das Internet süchtig?   60 beteiligt, den ganzen Tag damit verbringt, nach Infor-
  mationen zu suchen und Diskussionsbeiträge zu
1 Es gibt mittlerweile eine wachsende Zahl von Menschen, schreiben, so daß darüber sein Studium scheitert, hilft
 die sich selbst als „internetsüchtig“ bezeichnen. es ebenfalls nicht, ihn als „internetsüchtig“ zu klassi-
 Sie verbringen nicht selten 10 bis 20 Stunden täglich fizieren. Vielleicht sucht er im Netz Anerkennung, die
 mit Netzaktivitäten. Ihr gesamter Alltag bricht zusam-65 ihm im Studium fehlt, vielleicht hindert ihn die Prü-
5 men, es gibt keine anderen Interessen mehr. Familie, fungsangst am Studienabschluß, vielleicht kann er
 Freunde, Arbeit: alles ist gefährdet. Hinzu kommen sich mit seinem Studienfach nicht mehr identifizieren.
 finanzielle und gesundheitliche Belastungen. Wirft4 Wer vorschnell von Internet-Sucht spricht, tappt
 man einen Blick in die seit 1994 bestehende Online- bei problematischer Netznutzung in die Falle einer
 Selbsthilfegruppe zur Internet-Sucht (Internet Addic-70 oberflächlichen Scheinerklärung und läuft ansonsten
10 tion Support Group), ist jeder Zweifel an der Ernst- Gefahr, unseren kulturellen Vorurteilen über neue
 haftigkeit des Problems sofort zerstreut. Woche für Medien aufzusitzen: Wenn die 14jährige Tochter sich
 Woche sind in dieser Mailingliste erschütternde zur leidenschaftlichen Leserin entwickelt und ganze
 Erfahrungsberichte und Hilferufe von Betroffenen Tage und Nächte hinter Büchern verbringt, zeigen
 sowie ihren Angehörigen zu lesen. Neulich meldete75 sich die meisten Eltern erfreut über ein so anspruchs-
15 sich beispielsweise eine Schülerin zu Wort: „Meine volles Hobby. Stürzt sich die Tochter dagegen mit ver-
 Mutter sitzt von morgens bis abends im Schlafanzug gleichbarer Begeisterung ins Netz, ist man plötzlich
 am Computer und plaudert per Tastatur mit ihren sehr besorgt: Flüchtet sie aus der Wirklichkeit, droht
 Netzbekanntschaften. Sie geht überhaupt nicht mehr Vereinsamung, handelt es sich um Sucht?
 aus dem Haus und ist für uns praktisch nicht an-580 Das Verschlingen von Romanen gilt in unserer
20 sprechbar. Ich weiß nicht, wie lange das noch so wei- Kultur als sinnvolle oder zumindest unschädliche Tä-
 tergehen soll. Wenn meine Freundinnen mich fragen, tigkeit, während die Beschäftigung mit dem Internet
 warum bei uns ständig das Telefon besetzt ist, schäme zum belanglosen, wenn nicht gefährlichen Zeitver-
 ich mich.“ treib herabgewürdigt wird. Dabei bietet gerade das
2 Wenn Internetnutzung außer Kontrolle gerät,85 Netz vielfältige neue Möglichkeiten, mit anderen
25 scheint professionelle Hilfe notwendig. Deshalb hat Menschen in Verbindung zu treten, ihre Gedanken
 die Psychologin Dr. Kimberly Young von der Univer- und Gefühle kennenzulernen, Freundschaften zu
 sität Pittsburgh ein Zentrum für Online-Sucht im schließen und sich Gemeinschaften anzuschließen.
 World Wide Web eröffnet (http://netaddiction.com). Im Internet-Enthusiasmus offenbart sich meist keine
 Sie zweifelt nicht daran, daß Internet-Sucht ein neues90 pathologische Techniksucht, sondern die ganz nor-
30 klinisches Störungsbild ist, das sich rasant verbreitet. male „Sucht“ nach all dem, was uns inspiriert, erfüllt
 So düster diese Prognose für die Gesellschaft sein und erfreut und wovon wir gerne „mehr“ haben
 mag, so günstig ist sie wiederum für all diejenigen, die möchten. Daß wir es dank unserer Mitmenschen im
 mit der Bekämpfung von Internet-Sucht ihr Geld Netz oft auch finden können - das ist der Technolo-
 verdienen.95 gie nun wirklich nicht vorzuwerfen.
335 Dr. John Grohol, Psychologe in Ohio und Verwalter 
 des Mental Health Net (http://www.cmhc.com/), Wenn Sie mehr wissen wollen über die sozialen Aspekte des
 glaubt vorerst nicht an die Existenz einer neuen Stö- Internets und gleichzeitig praktische Tips für den Netzein-
 rung namens Internet-Sucht. Er ist seit knapp 20 Jah- stieg benötigen, dann kann Ihnen das Büchlein „Psycholo-
 ren im Netz aktiv und hält es für vollkommen unse- gie im Internet“ weiterhelfen (herausgegeben von T. Krüger
40 riös, ohne fundierte psychologische Forschungsarbeit und J. Funke, 1998, Beltz-Verlag, 19,80 Mark). Nicola
 allein auf der Basis von ein paar Erfahrungsberichten Döring hat sich mit einem Beitrag über „Sexualität im
 und Umfragedaten eine neue Krankheit zu postulie- Internet“ beteiligt und bietet zudem eine eigene Homepage
 ren. Kritische Stimmen wie John Grohol bestreiten im WWW an: http://paeps.psi.uni-heidelberg.de/doering/
 nicht, daß einige Menschen sich mit exzessiver Netz- 
45 nutzung Schaden zufügen. Sie betonen jedoch, daß 
 Extremnutzung nicht vom Internet selbst verursacht

Stuttgarter Zeitung, 18.7.1998