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Die Macht der vorgehaltenen Hand

Kein Gerücht ist zu phantastisch, als daß es nicht geglaubt würde. Hans-Joachim Neubauer erforscht die Geschichte der Fama / Von Urs Willmann

 Einzelne Tropfen kündigen es an. „Schon vernommen?“    in Boutiquen, um Töchter und
Hans-Joachim
Neubauer

lebt in Berlin, ist
Literaturwissen
schaftler,
Autor
und Dramaturg
 - „Weißt du?“ - „Hab’ gehört.“ Gattinnen vor der Verschlep-
 Bald prasselt das Unwetter. Am Ende ist einer pung zu retten. Anonyme An-
 patschnaß - ein Star, Politiker, der Dorfpfarrer, der75 rufe, Aufläufe, die Menge brüllt:
5 Abteilungsleiter. „Kauft nicht bei Juden.“
 Keanu Reeves ist schwul, Isabelle Adjani hat Aids. Soziologen schreiben später
 Man glaubt es ein bißchen, erzählt es weiter - wie die die Biographie dieses Gerüchts.
 berühmte Mär von der Spinne in der Yuccapalme Kein Komplott steckte dahinter, sondern schlicht wild
 oder der im Orient geklauten Niere.Man wird konspi-80 Erzähltes: „Es lenkt den Blick auf das häßlich Banale,
10 rierender Teil einer Kommunikationsmaschinerie, in die sexistischen Phantasmen und den antisemitischen
 Windeseile wird die Information weitergetragen. Ob Fond des Alltäglichen.“ In diesem Fall kam das Ge-
 wahr oder nicht, spielt keine Rolle mehr.Was alle sa- rücht, schreibt Neubauer, aus tiefer liegenden Schich-
 gen, kann nicht ganz falsch sein. ten des kollektiven Gedächtnisses. Ritualmordvor-
 Wie diese „kollektiven rhetorischen Operationen85 würfe gegen Juden gehören zum „kommunikativen
15 von bestimmter Unbestimmtheit“ ablaufen, welch fa- Alltag des christlichen Abendlandes“. Zwar ver-
 tale Macht sie auf ihrem Weg entfalten, dafür liefert schwinde die Legende und damit die Stigmatisierung
 der Berliner Literaturwissenschaftler Hans-Joachim der Juden in der „Latenz des kollektiven Wissens“,
 Neubauer Anschauungsmaterial. Gerüchte lösten Pa- doch das nächste Gerücht werde sie wieder hervorru-
 nik und Pogrome aus, Kriegsangst oder Siegestaumel.90 fen, „am Niederrhein oder an der Loire“, vermutet
20 In seiner Geschichte des Gerüchts schleppt Neubauer der Autor: „Das Gerücht ist die Stimme des Stigmas.“
 die Leser quer durch die Kulturgeschichte und führt 
 ein Panoptikum verschiedenster gedichteter und ge- Die Amerikaner wollten Gerüchte in Spezialkliniken
 zeichneter Allegorien vor. unschädlich machen
 Vergil zeichnet in Aeneis die Fama als monstrum 
25 horrendum, als schnelle Bestie mit Flügeln; ihr Leib ist Einen großangelegten Versuch, den Gesichtern der
 bedeckt mit Federn, Augen, Zungen, schwatzhaften95 schnellen Fama und ihren unergründlichen Quellen
 Mündern, gespitzten Ohren. Subtiler sieht dagegen systematisch zu begegnen, starteten 1942 die Ameri-
 sein jüngerer Zeitgenosse, der Metamorphosen- kaner. Über tausend kriegsrelevante Gerüchte, „Stör-
 Schreiber Ovid, das Wesen des Gerüchts. Seine Fama fälle funktionierender Kommunikation“, zählen empi-
30 ist vielschichtiger, nicht auf das Scheußliche be- rische Psychologen. Die Rede ist von gefolterten
 schränkt. Er gibt ihr weder Gestalt noch Gesicht, son-100 amerikanischen Kriegsgefangenen und Krankheiten
 dern widmet sich ihrem Haus. Famas Wohnstatt er- in der Truppe. Nur jedes fünfzigste Gerücht erzählt
 scheint wie „ein riesiges Musikinstrument, ein Reso- hoffnungsfroh von Sieg und Frieden - schlecht für die
 nanzraum von amorpher Gestalt“, in der die murmura psychische Volksgesundheit. Um das nationale Selbst-
35 ungehemmt die Luft durchdringen. Schöne Bilder, bewußtsein nicht zu gefährden, nehmen Gerüchte-
 treffend die meisten. Insbesondere A. Paul Webers105 kliniken ihren Betrieb auf. Journalisten, Psychologen,
 bekannte Lithographie, die das Gerücht als Lindwurm Kirchenvertreter und Polizisten sammeln kriegs-
 zeigt, zusammengesetzt aus Köpfen und Gesichtern, relevante Gerüchte, um sie in regelmäßigen Zeitungs-
 der durch die Straßenschlucht einer Großstadt fliegt. kolumnen zu entkräften. Gerüchteaufseher liefern
40 Doch Neubauers Reise durch die Umsetzungen den Nachschub. Allein in Boston sind zweihundert
 eines vielgestaltigen Phänomens zieht sich hin. Und110 Kneipenwirte nebenamtlich im Einsatz. Ob dies etwas
 nach hundert Seiten ist der Leser versucht, seinerseits nützte, läßt sich im nachhinein nicht beziffern. Eines
 ein Gerücht vom Aufkommen der Langeweile bei der zeige die großangelegte Aktion aber, meint Neubauer:
 Fama-Lektüre in Umlauf zu setzen. Das wäre voreilig. „Auch die Aufklärung über Gerüchte hat ihre Achil-
45 Denn in der zweiten Hälfte gewinnt das Buch an lesferse“. Denn die Aufmerksamkeit, die diese clinics
 Fahrt. Minutiös geht Neubauer Einzelereignissen auf115 auf das Phänomen „Gerücht“ lenkten, erzeugte so-
 den Grund und legt jene Mechanismen frei, die einem gleich ein Gerücht. Jeder, der ein Gerüchtegerücht
 Gerücht Dynamik verleihen. Diese Geschichten hinter verbreite, hieß es, habe mit einer Strafe von zehntau-
 den Geschichten machen sein Buch zu einer ech- send Dollar zu rechnen.
50 ten Fundgrube, nicht nur für Kulturhistoriker. Die professionellen Gerüchtekiller wurden nach
 Orléans 1969. Wochenlang erschüttern antisemiti-120 Ende des Krieges nicht arbeitslos. Nun galt es, das „Ge-
 sche Vorfälle die französische Stadt, ausgelöst durch rüchtevirus“ auch in zivilen Zeiten zu bändigen. Der
 ein dummes Gerücht, ausgebrütet in drei Schulen. Der Psychologe Robert H. Knapp, der die Aktion leitete,
 Anlaß: Am 10. Mai öffnet eine Boutique für Damen- träumte von einer „ganz neuen Welt ohne Gerüchte“.
55 bekleidung ihre Pforte. Originellerweise sind die Um- Doch an diesem Versuch scheiterten sogar die Ge-
 kleidekabinen mittelalterlichen Kerkern nachempfun-125 rüchteärzte selbst. Zwei von ihnen, Gordon W. Allport
 den. Der Name des Geschäfts:Aux Oubliettes, In den und Leo Postman, verfaßten eine sozialpsychologische
 Verliesen. Mädchen seien in diesen Umkleidekabinen Studie, mit dem erklärten Ziel, falsche und dumme
 mit Spritzen betäubt und in Gerüchte durch Wissen zu brechen. Insbesondere
60 orientalische Bordelle verfrach- Gerüchte rund um die Atombombe lagen ihnen auf
 tet worden, heißt es plötzlich,130 dem Magen, und so schrieben sie: „Man verbreitete das
 bald danach, die Kleider- und Gerücht, daß tödliche Strahlung sich lange in einem
 Mädchenhändler seien Juden. Gebiet halte.“ Der Versuch, dieses Gerücht zu besie-
 Schülerinnen erzählen es gen, ist, wie wir heute wissen, fehlgeschlagen.
65 Freundinnen, bald warnen Mütter 
 ihre Töchter, Lehrer ihre Hans-Joachim Neubauer:
 Schülerinnen. Schließlich weiß Fama
 es jeder, die meisten glauben es Eine Geschichte des Gerüchts; Berlin Verlag,
 auch. Denn: Kein Rauch ohne Berlin 1998; 272 S., 39,80 DM
70 Feuer. Am Ende des Monats 
 stürmen Väter und Ehemänner Die Zeit, 8.10.1998