Background image

terug

Die lautlosen Wurzeln der Sprache

Gebärden als elementare Form der Verständigung / Hochentwickelter Stimmapparat erst beim Homo sapiens

Keine andere Errungenschaft   alle nichtmenschlichen Primaten   ihrerseits schon vor langer Zeit
hat das Übermitteln und Speichernihre Handbewegungen viel exakterabstrakt geworden waren.
von Informationen derart erleich-steuern als die Bewegungen desDer australische Wissenschaftler
tert wie die Sprache. Erst dasMundes. Die vorhandenen An-erinnert daran, daß die ursprüng-
Verknüpfen von Sinn und Zeichenpassungsleistungen begünstigtenliche Rolle der Gebärden noch in
gab dem Menschen die Möglich-nach Ansicht des Forschers daherunserer heutigen Verständigung
keit, seinen kulturellen Reichtumam ehesten [id:20927] . Man kannweiterlebt. Menschen, die mit
anzuhäufen. Vieles deutet daraufPrimaten ein erhebliches Aus-jemandem aus einem fremden
hin, daß sich dieses mächtigedrucksvermögen in der Gebärden-Sprachraum zusammentreffen,
Kommunikationsmittel aus dersprache beibringen, während dasverfallen spontan in die Gebär-
Gebärdensprache entwickelt hat.Training der gesprochenendensprache. Die Gebärdensprache
Belege dafür hat der AnthropologeSprache [id:20928] .tauber Menschen ist so hoch
Michael C. Corballis von derAffen benötigen ihre Händeentwickelt, daß sie eine Unter-
University of Auckland/Neusee-für die Fortbewegung, können sierichtung in allen wissenschaft-
land zusammengetragen.für die Kommunikation daher nurlichen Disziplinen erlaubt. Taube
Obwohl die Sprache nur auseingeschränkt verwenden. [id:20929]Kinder, die bei hörenden Eltern
einem begrenzten Repertoire vonder aufrechte Gang, den unseregroß werden, entwickeln einer
Wörtern besteht, erlaubt sie eineVorfahren vor mindestens vierneuen Untersuchung zufolge eine
unbegrenzte Variationsbreite vonMillionen Jahren entwickelten, be-komplexe Gebärdensprache. Sie
Aussagen und Ideen. [id:20923] wirdscherte dem oberen Teil des Kör-weist viel [id:20932] auf als das pri-
das Denken durch die Sprachepers neue Möglichkeiten. Es gibtmitive System von Gesten, in dem
von der augenblicklichen Realitätviele Spekulationen darüber, wel-ihre Eltern mit ihnen kommuni-
befreit und kann sich in Raum,chen adaptiven Nutzen diese Ver-zierten. Es ließen sich verblüf-
Zeit und Imagination bewegen.änderung brachte. Vielleicht er-fende grammatische Unterschei-
Nichts von dem, was Tiere unterleichterte sie das Herstellen vondungen nachweisen.
langwierigem Training erlernenWerkzeugen oder das Tragen vonUngeklärt bleibt, warum der
können, ist [id:20924] . Menschen-Objekten. Aber mit großer Wahr-Mensch überhaupt zur akusti-
affen gelingt es bestenfalls, zweischeinlichkeit hat sie es unserenschen Verständigung überge-
bis drei Symbole aneinanderzu-Vorfahren auch ermöglicht, sichgangen ist. Einige Vorteile hat die
reihen, wobei jede grammatischebesser [id:20930] .gesprochene Sprache sicherlich.
Verknüpfung fehlt.In der Savanne, wo sich dieMit ihrer Hilfe lassen sich Bot-
Es scheint auf den ersten BlickEvolution des Menschen abspielte,schaften auch im Dunkeln und
[id:20925] , daß die Sprache sich ausverschaffte die Kommunikationohne Sichtkontakt übertragen.
den akustischen Rufen der Affenmit Gesten den größten Vorteil im[id:20933] hat der Übergang von der
entwickelte, die damit GefühleÜberlebenskampf. Durch dieseHand in den Mund ganz gewiß
ausdrücken und vor Gefahrenlautlose Art der Verständigungden Händen einen neuen Spiel-
warnen. Doch die Lautgebungenwurden keine Räuber angelockt.raum gebracht. Es wird vermutet,
der Primaten haben einen eindi-Wegen ihrer „räumlichen Struk-daß die Veränderungen am Stimm-
mensionalen Charakter. Jedertur“ eigneten sich Gesten beson-apparat, welche die gesprochene
Laut enthält eine geschlosseneders, das Berichtenswerte auszu-Sprache ermöglichten, erst vor
Botschaft, die sich nicht mit ande-drücken, zum Beispiel die Infor-etwa 100 000 Jahren abgeschlossen
ren Lauten zu neuen Botschaftenmation über den Aufenthaltsortwaren, als sich der Homo sapiens
verknüpfen läßt. Es kann abervon Raub- oder Beutetieren.Wennin Afrika entwickelt hat. Der neue
kaum ein Zweifel daran bestehen,die akustische Sprache tatsächlichKommunikationskanal machte die
daß sich die Sprache in einerspät auf eine GebärdenspracheHände frei,Werkzeuge und Waffen
schrittweisen Evolution aus„aufgepfropft“ worden ist, erklärtvon einer nie dagewesenen Raffi-
[id:20926] entwickelt hat. Nach An-das auch, warum die Beziehungnesse zu schaffen. Vielleicht war
sicht von Corballis gibt es vielezwischen Zeichen und Bedeutungdas sogar jener Entwicklungs-
Hinweise darauf, daß diese inmeistens [id:20931] ist. Abgesehensprung, der unserer Spezies zur
einem manuellen Zeichensystemvon den seltenen Lautmalereien,Vorherrschaft in ihrer ökolo-
bestanden („American Scientist“,gibt es zwischen den Wörtern undgischen Nische verhalf.
H.2/99).dem, was sie bedeuten, keine Ähn-
Tatsache ist, daß bei Primatenlichkeit. Das mußte so kommen,
der Sehsinn dominiert. Er bean-wenn die akustischen Begriffe sichRolf Degen, in: Frankfurter
sprucht mehr als die Hälfte dernach einer langen Entwicklungs-Allgemeine Zeitung, 31.3.1999
Hirnkapazität. Zudem könnenphase an Gebärden hefteten, die