Von Andreas Geldner
1 | Das Rechtschreibchaos steht vor der Tür - so lautete | 50 | Nur aus diesem Grund hat das gute alte ß nach langen | |||||
Anfang dieser Woche eine Meldung aus dem Ticker | Vokalen überlebt, obwohl die Schweizer es schon seit | |||||||
einer Nachrichtenagentur. Dort wurde angesichts der | Jahrzehnten von ihren Schreibmaschinen und Compu- | |||||||
Tatsache, dass 43 Prozent der Deutschen die neuen Re- | tern verbannt haben. | |||||||
5 | geln bisher nicht anwenden wollen, Düsteres prophe- | 4 | Das Gedankenspiel mit den alten Regeln ist in jedem | |||||
zeit. Aber vielleicht kann schon ein Blick in die Briefe | 55 | Fall aufschlussreich. Wie wäre es, wenn jeder von uns | ||||||
von Urgroßmutter und Urgroßvater etwas Trost spen- | wieder einen Tag die Schulbank drücken würde und all | |||||||
den. Auch nach der letzten großen Schreibreform aus | die Ausnahmen und Sonderfälle der alten Rechtschrei- | |||||||
dem Jahr 1901 schreiben sie in ihren privaten Briefen | bung ganz regelgerecht begründen müsste? Hand aufs | |||||||
10 | noch lange von Thür und Thor - ohne dass deshalb das | Herz, wie schreibt man im Dunkeln lassen oder sub- | ||||||
geistige Leben des damaligen Kaiserreichs im Chaos | 60 | stanziell oder aufs Beste versorgt oder Montagabend? | ||||||
versank. Und die Schülerinnen und Schüler von heute, | Glückwunsch! Wer schon bisher so geschrieben hat, | |||||||
die zum Teil schon seit drei Jahren die neuen Regeln | kann dies jetzt in dem Bewusstsein tun, wenigstens | |||||||
lernen, haben es ohne schwerwiegende Anfälle von | künftig richtig zu liegen. | |||||||
15 | Rechtschreibschizophrenie verkraftet, dass Tageszei- | 5 | Leicht vergessen werden in der ganzen Debatte häu- | |||||
tungen, Zeitschriften und viele andere gedruckte Me- | 65 | fig diejenigen, für die das neue Regelwerk eigentlich | ||||||
dien sich bisher noch an den alten Regeln orientiert | gemacht wurde. Kinder und Schüler können sich auf | |||||||
haben. Das ist eigentlich kein Wunder, umfasst die | keinen vorhandenen Rechtschreibinstinkt berufen. Sie | |||||||
Neuregelung doch nur 0,5 bis zwei Prozent der in | mussten auch in der alten Schreibung alle Regeln - und | |||||||
20 | einem Text vorkommenden Wörter. Wer nun ein furcht- | die Ausnahmen - von vorn lernen. Und das war kein | ||||||
bares Zeitalter orthografischer Willkür an die Wand | 70 | Zuckerschlecken. Eine Menge Schreibungen werden | ||||||
malt, weil für eine gewisse Zeit zwei Regelsysteme | für die Schüler nun leichter, manche nur anders. In | |||||||
nebeneinander stehen, geht an der Wirklichkeit vorbei. | jedem Fall ist für sie ganz selbstverständlich, was für | |||||||
2 | Gestritten wurde um die neuen Regeln vor allem | die mit der alten Schreibweise groß gewordenen | ||||||
25 | außerhalb der Schulen. Es waren weniger die Lehrer, | Erwachsenen ungewohnt ist. | ||||||
schon gar nicht die Schüler, die protestierten. Es waren | 6 | 75 | Mit der Umstellung der Printmedien auf die neue | |||||
vor allem Professoren, Journalisten und Literaten. Also | Schreibweise wird es nun auch für ein breiteres Publi- | |||||||
Menschen, die von Berufs wegen den alten Duden¹ aus | kum ernst. Niemand wird dadurch gezwungen, seine | |||||||
dem Effeff beherrschen - oder jedenfalls beherrschen | Briefe anders zu schreiben. Aber die neuen Schrei- | |||||||
30 | sollten. So mancher Profi der Sprache muss nun zu sei- | bungen stehen nun auf dem Prüfstand der Leser. Das | ||||||
nem Überdruss eine Schulung in der neuen Recht- | 80 | meiste wird schnell akzeptiert werden; die eine oder | ||||||
schreibung über sich ergehen lassen und kommt wenig | andere Schreibweise mag sich am Ende nicht durchset- | |||||||
erquickt aus dieser Lehrstunde. Allein die Tatsache, | zen. Die Welt geht davon nicht unter, und die Kultur ist | |||||||
dass etwas, das seit vielen Jahren eher instinktiv ge- | nicht in Gefahr. Auch derjenige, dem die ganze Rich- | |||||||
35 | steuert wird, nun für eine Übergangszeit wieder über | tung nicht passt, sollte zumindest einräumen, dass er | ||||||
den Intellekt neu programmiert werden muss, empfin- | 85 | seine Zeitung auch dann noch versteht, wenn das Wört- | ||||||
den viele als Zumutung. Und es liegt in der Natur der | chen daß ohne ß geschrieben wird - so wie diesen | |||||||
Sache, dass beim Lernen nicht die vielen unproblema- | Text, der, ganz nebenbei, nach den neuen Regeln ver- | |||||||
tischen Regeln, sondern Zweifelsfälle und weniger ge- | fasst ist. | |||||||
40 | glückte neue Vorschriften im Mittelpunkt stehen. Denn | Bis zum Schuljahr 2005/2006 ist nun Zeit, das Neue | ||||||
solche Vorschriften gibt es auch. | 90 | zu überprüfen. So lange wird in keiner Klassenarbeit | ||||||
3 | Die Reformer haben sich beispielsweise an den | die alte Schreibweise als Fehler angekreidet. Dann, so | ||||||
Regeln für die Getrennt- und Zusammenschreibung die | haben die Kultusminister versprochen, wird kritisch | |||||||
Zähne ausgebissen. Aber selbst in diesem besonders | Bilanz gezogen. Eine Prognose sei gewagt: In einigen | |||||||
45 | umstrittenen Fall ist zweifelhaft, ob die alte Regelung | Jahren wird kaum jemand mehr zum alten Duden zu- | ||||||
im direkten Vergleich einen Punktsieg erringen würde. | 95 | rückkehren wollen. | ||||||
An vielen Stellen hat die Reformer auch schlicht der | ||||||||
Mut verlassen, weil sie - wohl zu Recht - noch einen | ||||||||
lauteren kulturpessimistischen Aufschrei befürchteten. | Stuttgarter Zeitung, 31.7.1999 |