1 | Nie zuvor in der Geschichte der Mensch- | Da kommen Patienten, die sich kaum jemals aus | ||||||
heit hat man über Gesundheit mehr gewußt | ihrem Sessel erheben, und möchten sich Massagen | |||||||
als heute. Die Substanzen der Nahrungs- | 65 | verschreiben lassen. Sie bewegen sich nie, haben | ||||||
mittel sind bis ins kleinste Detail bekannt, | aber den Wunsch, daß ein anderer sie in Schwung | |||||||
5 | ihre Wirkungsweise auf den Organismus ist | bringt. Die Ärztin sieht darin einen allgemeinen | ||||||
es auch. Man weiß, wie man Muskeln | Trend: Der einzelne fühle sich für seine Gesundheit | |||||||
strafft, Krankheiten besiegt, wie schädlich | nicht mehr zuständig und habe sich daran gewöhnt, | |||||||
Umwelteinflüsse sind oder wie belastend | 70 | daß Fachleute für ihn denken und handeln. „Diese | ||||||
Rauchen oder Alkohol für den Körper ist. | Patienten geben die Verantwortung für sich gerne | |||||||
10 | Man weiß viel und wird täglich glänzend in- | an andere ab. Der Spezialist - daran hat man sich | ||||||
formiert. Und dennoch verhalten sich die | gewöhnt - weiß und tut alles besser als ich selbst. | |||||||
meisten Menschen ganz anders, als der Ver- | Im Grunde genommen sind diese Leute Gefangene | |||||||
stand es will. | 75 | eines heute verbreiteten Glaubens, für noch so | ||||||
2 | Dieses Phänomen des Irrationalen fällt | simple Entscheidungen seien nur Fachleute zustän- | ||||||
15 | heute in den Praxen der Ärzte als eine | dig. Sie geben sozusagen ihren Kopf an der Garde- | ||||||
wachsende Zeiterscheinung auf. Giesela | robe der Arztpraxis ab.“ | |||||||
Dahl, Vorstandsmitglied der Landesärzte- | 6 | Daß der Mensch seinen Verstand nicht zielstre- | ||||||
kammer und Allgemeinmedizinerin, erlebt | 80 | big nutzt, hat für Giesela Dahl aber noch andere | ||||||
solch widersprüchliche Patienten so häufig, | gesellschaftliche Gründe. Körperliche Gesundheit | |||||||
20 | daß sie sich über den Hintergrund dieses | gilt heute nicht nur als ein besonders hoher Wert - | ||||||
Verhaltens Gedanken machte. Als ersten | sie wird auch zum Muß, dem der einzelne sich beu- | |||||||
Grund nennt sie, daß der Mensch häufig an | gen soll. Umgeben von solchen als allzu einengend | |||||||
seinem inneren Schweinehund scheitert: | 85 | empfundenen Zwängen, sinne eine Gruppe ihrer | ||||||
„Ich müßte ja Konsequenzen aus meinem | Patienten auf Freiheit, meint die Ärztin: „Ich sehe | |||||||
25 | Wissen ziehen, von liebgewordenen Ge- | das auch als einen Protest gegen ein Diktat und | ||||||
wohnheiten Abstand nehmen, etwas | gegen Normierungen: Wir haben alle gesund zu | |||||||
Grundlegendes ändern, und das ist schreck- | sein. Und Gesundheit ist oberstes Gesetz. Da | |||||||
lich mühsam.“ Angst vor Neuem und Frem- | 90 | machen diese Patienten dann auf Durchzug und | ||||||
dem ist eine Schranke, die auch in anderen | machen, was sie wollen.“ | |||||||
30 | Lebensbereichen oft Veränderungen ver- | 7 | Eine weitere Antwort auf die Frage, warum der | |||||
hindert, so die Ärztin. | Mensch sich nicht so gesund verhält, wie er es auf- | |||||||
3 | Logisch wäre es tatsächlich, wenn ein | grund seines Wissens tun könnte, lautet: Er tut dies | ||||||
Mensch weniger Butter auf sein Brot schmieren | 95 | oft nicht, weil er unvernünftig ist, sondern weil er | ||||||
würde, weil er einen zu hohen Cholesterinspiegel | verunsichert auf eine Flut von Gesundheitsinfor- | |||||||
35 | hat. Das wäre folgerichtig: Man hat eine Informa- | mationen reagiert. Die zahllosen Warnungen über | ||||||
tion, die nach einer neuen Entscheidung verlangt, | Lebensmittel und gesundheitliche Risiken mögen | |||||||
und setzt diese prompt in eine Handlung um: „Fort | gut gemeint sein, sie richten jedoch Schäden an, | |||||||
mit der Butter und her mit der Gesundheit!“ Doch | 100 | weiß die Psychoanalytikerin Christiane Lutz: „Da- | ||||||
wenn es darum geht, Kopf, Bauch und Gefühle | mit geht oft das Vertrauen in die Selbstheilungs- | |||||||
40 | unter einen Hut zu bringen, um eine Veränderung | kräfte verloren. Ich kenne das von Müttern, die die | ||||||
des Lebens zu ermöglichen, gibt es manchmal Wi- | Kinder so sehr mit Belehrungen belasten, daß alle | |||||||
derstände in tiefenpsychischen Schichten, behaup- | Spontaneität verlorengeht: Man darf gar nichts es- | |||||||
tet auch die Psychoanalytikerin Christiane Lutz: | 105 | sen. Kein Nahrungsmittel vermittelt mehr Lustge- | ||||||
„Resignation und Depression - Gefühle, die uns | fühle.“ Viel Lebensfreude geht auf diese Weise ver- | |||||||
45 | hindern, aktiv zu werden - werden häufig schon in | loren. Lebensfreude, die von vielen Medizinern | ||||||
früher Kindheit geprägt. Wer aufgerufen ist zu | und Psychologen heute eine immer wichtiger wer- | |||||||
eigenen Entscheidungen und sie nicht treffen kann, | dende Medizin genannt wird. Da der Mensch nun | |||||||
hat häufig früh gelernt, daß ihm verantwortliches | 110 | mal nicht nur vom Kopf her lebt, wirkt sie oft bes- | ||||||
Tun nicht zugetraut wurde.“ | ser als eine Kreislaufpille. In diesem Urteil sieht | |||||||
4 | 50 | Auch ein Stück Naivität beobachtet die Psycho- | sich auch Giesela Dahl bestätigt, wenn sie Patien- | |||||
analytikerin bei Menschen mit ungesunden Verhal- | ten beobachtet, die sich ganz gesundheitsbewußt | |||||||
tensweisen: „Es ist die Vorstellung: Um mich macht | geben, in Wahrheit jedoch auch nur eine kleine | |||||||
die Konsequenz einen Bogen. Ich bin der eine von | 115 | Auswahl aus einer riesigen Palette von Gesund- | ||||||
den 1000 Fällen, bei denen es gutgeht - kein Rau- | heitsempfehlungen bevorzugen. „Viele Menschen | |||||||
55 | cherkrebs, keine Kreislaufkrankheiten.“ | reagieren auf bestimmte Verunsicherungen - ande- | ||||||
5 | Wissenschaftler beobachten, daß Menschen sich | re ignorieren sie einfach. Jeder weiß heute, daß ein | ||||||
besonders gern in die eigene Tasche lügen, wenn es | Sonnenbad die Gefahr von Hautkrebs mit sich | |||||||
um ihre Gesundheit geht. Sie werden zu Trickbe- | 120 | bringt. Kaum jemand richtet sich danach. Aber der | ||||||
trügern an sich selbst: Sie vernebeln einfach ihr | linksdrehende Joghurt ist ein Gesetz.“ | |||||||
60 | Gehirn, damit es keine unbequemen Forderungen | |||||||
stellt. Ein gewisses kindliches Verhalten bemerkt | ||||||||
auch Giesela Dahl immer häufiger in ihrer Praxis. | Eugénie Bott, in: Stuttgarter Zeitung, 28.2.1998 |