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Voll auf die Zwölf

Voll auf die Zwölf

Die Jugendgewalt: Fragen an
Medien, Popkultur und Internet

1    Wer angesichts der Nachrichten aus den   45 Jahre begann. Wenn sich Schulhöfe früher
 Krisengebieten deutscher Schulhöfe in grob in Fußballfans und Hippies teilten, wird
 Hildesheim oder Walpertskirchen glaubt, die heute eine unermessliche Vielzahl von
 Jugend würde zunehmend verrohen, dem sei Grabenkämpfen ausgefochten – zwischen
5 William Goldings Jugendroman „Herr der Hip–Hop– und Rockfans, Skateboardern und
 Fliegen“ empfohlen oder auch Leonard50 Fußballern, Antiglobalisierern und Rechtsradikalen,
 Bernsteins „Westside Story“. Da ging es alles Identifikationsgruppen, die
 schon vor einem halben Jahrhundert mit perfider wiederum untereinander Kleinstfraktionen
 Grausamkeit und archaischer Brutalität bilden. Das hat jugendliche Rivalitäten erst
10 zur Sache. Die Nachrichtenlage ist allerdings recht dramatisiert.
 eindeutig. Jugendliche, die Misshandlungen555    Dann gibt es den Rückzug der Subkulturen
 von Mitschülern filmen, um sie im Internet zu in die Körperlichkeit der Straßen– und Extremsportarten,
 veröffentlichen – hier bekommt adoleszente um sich vom multimedialen
 Grausamkeit eine neue Qualität. Pop der Eltern abzugrenzen. So konnte selbst
215    Der naheliegende Schritt ist natürlich, erst das Zufügen von Schmerz zum ultimativen
 einmal die Medien und die Popkultur zu betrachten,60 Ausdrucksmittel werden – noch dazu, wo dies
 ob sich da nicht die Wurzeln des bei der zunehmenden Virtualisierung der
 Bösen finden. Indizien dafür gibt es weltweit Erfahrungswelt durch digitale Medien irgendwo
 genug. In Korea tragen synchron hunderttau zwischen Wirklichem und Unwirklichem
20 sende Jugendlicher in Computernetzen heftige verbleibt.
 Videospielschlachten aus. Unter brasilianischen665    Und im Internet bilden sich Subkulturen,
 Bürgerkindern werden mörderische die sich schon aus technischen Gründen separieren.
 Gangsterbanden als „Favela Chic“ verherrlicht. Mit dem ins Netz gestellten Video
3    So viele Fragen es an die Rolle der Medien einer Misshandlung kann sich eine Schläger70
25 und Popkultur für die Entstehung der Jugendgewalt bande entweder über die offenen Systeme der
 gibt, so schwer fallen nach wie vor die70 Daten–Tauschbörsen bei kodierten Zielgruppen
 Antworten. Aber so gleichgültig Medien, Pop in Szene setzen, über die auch die illegalen
 und digitale Technologien sich zur Moral ver Musikdateien verteilt werden – oder in
 halten, so wahrscheinlich ist es, dass sie gerade abgeschlossenen Chatrooms, die nur Ein
30 deshalb so wirkungsvoll sind. Und die geweihten zugänglich sind. Die angestammten
 Welt der Erwachsenen reagiert auch darum so75 Medien der Popkultur, wie Text, Musik und
 ratlos auf die Gewaltextreme der Jugendlichen, Film, die ganze Generationen vereinen können,
 weil deren Subkulturen mehr denn je haben jedenfalls längst an Bedeutung
 darauf angelegt sind, unzugängliche Welten verloren.
35 zu erschaffen, in denen sich ihre Generation,7    All das sollte in einer Debatte über Jugendkultur
 ihre Minderheiten zurückziehen können.80 behandelt werden. Doch welche
 Ohnehin tun sich die heutigen Elterngenerationen, Rollen spielen die zunehmende Instabilität der
 die die Kultur ihrer eigenen Jugend Familienstrukturen, demografische Veränderungen
 bis ins hohe Erwachsenenalter pflegen, besonders und die sozialen Härten der Wirt
40 schwer, neue Jugendkulturen zu verstehen schaftskrise? Oder führen all diese Fragen zu
 – zumal sich hier inhaltlich und formal85 weit vom Thema ab?
 mächtig viel verändert hat.8    Nur eines steht fest – Gewalt ist immer das
4    Das beginnt mit der Fragmentierung der Extrem eines größeren Phänomens.
 Jugend– und Popkultur, die Ende der 80er

ANDRIAN KREYE

Süddeutsche Zeitung