1 | | | „Frauen müssen doppelt so viel | |
| | | leisten wie Männer, um die gleiche |
| | | Karriere zu machen. Mindestens ...!“, |
| | | sagte meine Mutter immer, wenn es |
| 5 | | um die ferne Zukunft ihrer Kinder im |
| | | Berufsleben ging. Der Spruch war |
| | | motivierend gemeint. Bei mir |
| | | bewirkte er eher das Gegenteil. |
| | | Doppelt so viel? Da wäre es doch |
| 10 | | schlau, noch einen anderen Plan |
| | | fürs eigene Glück zu haben als den, |
| | | „Karriere“ zu machen. Und so schlich |
| | | sich in mein gar nicht so |
| | | unehrgeiziges jugendliches |
| 15 | | Bewusstsein ein unemanzipierter |
| | | Gedanke. Die Idee, dann halt doch |
| | | vor allem Familie zu haben (schon |
| | | auch arbeiten, aber nicht so richtig), |
| | | für die mir meine mit drei Kindern |
| 20 | | immer Vollzeit schuftende Mutter die |
| | | Ohren lang gezogen hätte, hätte ich |
| | | sie denn je zu formulieren gewagt. |
2 | | | Heute bezeichnet Bascha Mika, ehemalige Chefredakteurin der „taz“, |
| | | Frauen, die meine kindliche Karrierefluchtidee in die Tat umsetzten, als |
| 25 | | feige und bequem. Diese Frauen, so Mika in ihrem Buch „Die Feigheit der |
| | | Frauen“, seien selbst daran schuld, dass sie nicht in die Chefetagen |
| | | kommen, weil sie sich schon viel früher freiwillig, unter dem Einfluss ihrer |
| | | Hormone in die „Komfortzone“ Familie zurückgezogen hätten. Sie wären |
| | | weder bereit, im Privatleben für die Veränderung der Rollenverteilungen |
| 30 | | zu kämpfen, noch im Job richtig Gas zu geben. Also: doppelt so viel Gas. |
| | | Deshalb säßen sie nun da, mit zwei Kindern, Haus und Hund, mit der |
| | | Latte macchiato in der Hand und einem Mann, der das Geld verdient und |
| | | von dem sie wie eh und je abhängig sind. |
3 | | | Mein Verdacht: Mika hat Recht. Es gibt tatsächlich viele Frauen, die |
| 35 | | sich zwar nicht absichtlich für die Abhängigkeit, aber doch ganz bewusst |
| | | gegen eine Zukunft entschieden haben, in der sie achtzig Stunden in der |
| | | Woche im Businesskostüm den großen Mann markiert hätten, dabei |
| | | trotzdem immer wieder belächelt worden und am Ende dann doch an die |
| | | gläserne Decke1) gestoßen wären. Sie redeten sich ihren Ehrgeiz lieber |
| 40 | | aus und wählten einen stressfreieren Job, der mit dem Schulschluss um |
| | | 13 Uhr mittags vereinbar ist. |
4 | | | Doch die Zeiten ändern sich. Der Satz meiner Mutter stimmt heute |
| | | nicht mehr. Junge Frauen müssen heute nicht mehr doppelt so viel leisten |
| | | wie Männer. Denn sie werden viel dringender gebraucht. Die |
| 45 | | Weltwirtschaftskrise hat männliches, machtgeiles Führen grundsätzlich in |
| | | Frage gestellt. Seriöse Studien weisen nach, dass mehr Frauen in den |
| | | Chefetagen den Profit erhöhen. Die demografische Entwicklung wird |
| | | demnächst zu einem Fachkräftemangel führen. Außerdem wird ein „gutes |
| | | Image“ für Unternehmen immer wichtiger – und da gehören Frauen in den |
| 50 | | Führungsetagen auf jeden Fall dazu. Nicht umsonst haben sich Frauen in |
| | | der Politik, die von der Außenwirkung ganz direkt abhängt, bereits am |
| | | deutlichsten durchgesetzt. |
5 | | | Sogar CDU-Politiker sprechen sich für eine gesetzliche Quote in der |
| | | freien Wirtschaft aus (von der Leyen). Der erste Vorstandsvorsitzende |
| 55 | | eines Spitzenunternehmens führte sie tatsächlich ein (Telekomchef René |
| | | Obermann). Arbeitgeberpräsident Hundt macht Druck auf Konzerne, |
| | | sogar die EU mischt sich ein. Eine gesetzliche Quote wäre sehr sinnvoll. |
| | | Sie würde die Entwicklung beschleunigen und absichern. Denn Männer |
| | | (immer noch oben) beurteilen Leistungen von Frauen nach ihren |
| 60 | | (männlichen) Kriterien. Gut ist, wer so handelt, wie sie gehandelt hätten – |
| | | und das auch so kommuniziert. Nur: Es macht einen Unterschied, ob der |
| | | Personalchef, vor dem eine Frau aus typisch weiblicher Unsicherheit |
| | | ehrliche Zweifel an ihrer Kompetenz durchschimmern lässt, sie unbedingt |
| | | als neue Projektmanagerin braucht, weil sein Unternehmensvorstand |
| 65 | | Frauen auf den höheren Ebenen öffentlich zum Firmenziel erklärt hat. Die |
| | | Unsicherheit bekommt weniger Gewicht, wenn Frauen, die wollen, so |
| | | wertvoll sind wie heute. |
6 | | | Selbst wenn die Quote noch auf sich warten lässt: Allein die ernsthafte |
| | | Diskussion darüber ist ein riesiger Fortschritt. Es verändert sich was. Wir |
| 70 | | verändern uns. Wir können den Satz von der „doppelten Leistung“ im Kopf |
| | | streichen. Die Männerwelt da oben braucht uns. Wer das weiß, kann sich |
| | | auch anders entscheiden als die Frauen in Bascha Mikas Buch. Und die |
| | | Sache mit der Unsicherheit bekommt man so auch besser in den Griff. |
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| | | naar: Neon, april 2011 |
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noot 1 die gläserne Decke: das Phänomen, dass qualifizierte Frauen kaum in die
Spitzenpositionen in Unternehmen und anderen Organisationen vordringen.