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Ausweitung der Trinkzone

Ausweitung der Trinkzone

In unserer Flatrate-Kultur sind Verbote unerwünscht

1    Im späten Mittelalter waren die    
 Weinbrunnen eine gängige Form der 
 Herrscherrepräsentation. Bei Königs- 
 krönungen wurden sie – in bester 
5 Innenstadtlage – aufgestellt und 
 spendeten für ein paar Stunden 
 unbegrenzten Alkoholgenuss. Mit 
 Fug und Recht kann man das als 
 Flatrate-Saufen avant la lettre 
10 bezeichnen. Das waren aber Aus- 
 nahmesituationen. Heute neigt jeder 
 Exzess dazu, zum Normalzustand zu 
 werden. In vielen deutschen Städten 
 ist das unkontrollierte, unlimitierte 
15 Trinken, vor allem unter Jugend- 
 lichen, zu einem ernsthaften sozialen 
 Problem geworden. 
2    Verschiedene Kommunen, bei- 
 spielsweise Freiburg, Marburg oder ist trotz gegenteiliger Beteuerungen
20 Magdeburg, haben darauf mit zeitlich in vielen Großstädten längst von
 und räumlich begrenzten Konsum-90 Ausnahmen durchlöchert.
 verboten reagiert. An Wochenenden6    Die Entwicklung des Privatfern-
 darf in bestimmten Innenstadtvierteln sehens zu einer dem Internet analo-
 nicht mehr öffentlich Alkohol konsu- gen, ständig verfügbaren Videothek
25 miert werden. Gerade war jedoch ein und die zunehmende Verbreitung
 Freiburger Jurastudent mit seiner95 mobilen Zugangs zum Netz mit all
 Klage gegen die lokale Regelung vor seinen Konsumangeboten (ein-
 dem Baden-Württembergischen schließlich deren jeweiligen Sucht-
 Verwaltungsgerichtshof erfolgreich; potentialen) haben einen Sog ent-
30 die Folgen des Urteils sind abzu- wickelt, der auch alle anderen
 warten. Just in Baden-Württemberg100 Lebensbereiche verändert. Immer
 aber hat die Landesregierung kürz- mehr Museen öffnen auch abends,
 lich ein nächtliches Alkoholverkaufs- veranstalten „Lange Nächte“, als
 verbot für Tankstellen, Kioske und könnte man zu dieser Zeit nichts
35 Supermärkte beschlossen, um das anderes tun, als Ausstellungen zu
 sogenannte Vorglühen zu bekämp-105 besuchen. Sozialer Fortschritt
 fen, das besonders in entlegeneren scheint sich zu definieren als Auf-
 Gegenden „Shell Select“ oder „Aral hebung von Schranken. Ziel ist die
 Stores“ am Wochenende zu beliebten ort- und zeitlose Garantie sofortiger
40 Party-Treffpunkten macht. Bedürfnisbefriedigung.
3    Solche Verbote passen scheinbar7110    Die vielen Ausweitungen der
 nicht mehr in unsere Zeit. Sie kollid- Konsumzone haben inzwischen
 ieren mit der stetigen Ausweitung einen Sprung von der Quantität in die
 von vermeintlichen Freiheitsräumen Qualität vollzogen. Wenn Rollen-
45 in vielen Bereichen des Alltags, der spieler in virtuellen Welten jedes
 zuletzt allein das Rauchverbot115 reale Zeitgefühl verlieren – Kenn-
 zuwiderlief. Dort konnte man aber zeichen von Suchtkrankheiten im
 leicht mit den gesundheitlichen Netz ist ja unter anderem die Ent-
 Folgen für Unbeteiligte argumentie- kopplung von „normalen“ Essens-
50 ren. Beim Alkoholverbot ist schwerer oder Schlafzeiten –, so bewegt sich
 zu vermitteln, warum die Aus-120 die Gesellschaft als Ganzes immer
 schweifungen einiger, die damit vor weiter in die Richtung einer Auf-
 allem sich selbst schädigen, die hebung von Rhythmen und Zeitstruk-
 Rechte aller einschränken sollen. turen zugunsten der ewigen Gegen-
455    Jenseits von [id:95394] Fragen liegt wart unbegrenzten Zugriffs auf alles.
 hier ein grundsätzliches Problem. In125 Dass man an einem bestimmten Ort
 der Konsumsphäre hat sich ein etwas, also eine Information, einen
 Mentalitätswandel vollzogen, der Artikel oder eben ein Bier, nicht
 keineswegs allein von der jungen kriegt (oder kein Netz hat, um es sich
60 Generation getragen wird. Freiheit wenigstens schon einmal zu bestel-
 wird zunehmend verstanden als130 len), wird nicht mehr als normale und
 unbegrenzter Zugang zu Konsum- naturgegebene Einschränkung emp-
 angeboten aller Art. Dass der Begriff funden, sondern als Rückständigkeit,
 „Flatrate-Saufen“ der Mobilfunk- und die überwunden werden muss und
65 Internetwelt entlehnt ist, ist kein wird.
 Zufall. Eine Werbekampagne für8135    Wir alle tragen diese Entwicklung
 einen Mobilfunkanbieter verspricht mit. Wer kein Handy besitzt oder
 „unbegrenzte Redefreiheit“ und meint seine Mails nicht täglich abruft, dem
 damit natürlich nur einen besonders droht in manchen Kreisen die soziale
70 günstigen Abrechnungsmodus. Im Ächtung. Mit der Möglichkeit, ständig
 Online-Shopping ist längst eine Norm140 zu kommunizieren, geht automatisch
 ständiger [id:95395] gesetzt, die die auch die Pflicht dazu einher. Wer
 ganze Welt des Handels ansteckt. spricht, wird auch angesprochen; mit
 Downloaden kann man immer und den Kommunikationsradien wächst
75 überall. Warum nicht alles andere die Erreichbarkeit für Werbung.
 auch?145 Unterhaltung ist überall und mit ihr
5    Während früher nicht nur auf dem die Verführung zu Flucht und Sucht.
 Dorf samstags mittags um zwölf Uhr Warum man in dieser Welt des
 dreißig der Rollladen herunterging, unendlichen Spaßes dann aus-
80 ist es inzwischen selbstverständlich gerechnet den Alkohol auf der Gasse
 geworden, in Innenstädten bis Mitter-150 verbieten will, will den restlos
 nacht einkaufen zu können. Manche befreiten Konsumenten dann nicht
 „Spätverkäufe“ oder „Trinkhallen“ mehr einleuchten.
 ähneln heute Weinfachgeschäften. In 
85 Berlin-Mitte gehört das Samstag- naar: Frankfurter Allgemeine
 abend-Shoppen bei Dussmann zum Zeitung
 Lebensstil dazu. Die Sonntagsruhe