1 | | | Einwandererkinder haben es nie leicht gehabt im deutschen Schul- |
| | | system. Seit die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen, war ihr |
| | | Schicksal ungewiss. Weder das politische noch das schulische System |
| | | waren auf Immigranten eingestellt. Während Kinder der ersten |
| 5 | | Einwanderergeneration in den USA aufs College gehen, ist ihre Teilhabe |
| | | an höherer Bildung bei uns immer noch gering. Das von der Hertie |
| | | Stiftung 2002 ins Leben gerufene START-Stipendium für begabte |
| | | Zuwandererkinder wollte das ändern. Es begann mit 20 Stipendiaten in |
| | | Hessen, heute werden mithilfe etlicher kleinerer und größerer Stiftungen |
| 10 | | mehr als 700 Stipendiaten in fast allen Bundesländern unterstützt. |
2 | | | Aber welche Jugendlichen fördert die Stiftung eigentlich, und ist deren |
| | | Erfolg Ergebnis der Förderung? Das sind Fragen, die in der Studie |
| | | „Migranten am START“ am Institut für Migrationsforschung der Universität |
| | | Osnabrück im Auftrag der START-Stiftung untersucht wurden. 76 Prozent |
| 15 | | der Stipendiaten beteiligten sich an der Umfrage. |
3 | | | Demnach sind die geförderten Schüler sozial engagierte, selbst- |
| | | bewusste Jugendliche, die eine aussichtsreiche Bildungs- und Berufs- |
| | | karriere vor sich haben. Freilich unterscheiden sich die Familien der |
| | | Stipendiaten erheblich voneinander, abhängig davon, ob sie |
| 20 | | Arbeitsimmigranten, Aussiedler, jüdische Kontingentflüchtlinge oder |
| | | Flüchtlinge sind. |
4 | | | Sie sind durch mittleres und überwiegend hohes kulturelles Kapital |
| | | gekennzeichnet, das mit einem niedrigen Sozialstatus einhergeht und |
| | | geprägt ist durch Arbeitslosigkeit und geringes Einkommen. Das kulturelle |
| 25 | | Kapital, das mag eine Juristenausbildung in Afghanistan sein oder ein |
| | | Kuratorjob im Iran, erfährt im Einwanderungsland zwar eine objektive |
| | | Entwertung, aber das damit einhergehende Bildungskapital, also die |
| | | Wertschätzung von Lesen, Schreiben, Wissen, Musik, verfällt nicht und |
| | | nützt den Kindern. Es gibt aber auch eine kleinere Gruppe von Familien |
| 30 | | (15 Prozent) mit niedrigem Bildungshintergrund, deren Kindern kein |
| | | solches Kultur- und Bildungskapital zur Verfügung steht. |
5 | | | Der Anteil der Eltern mit Hochschulzugangsberechtigung ist bei |
| | | START-Eltern mehr als doppelt so hoch wie bei anderen Personen mit |
| | | oder ohne Migrationserfahrung. Statistische Ausreißer sind unter den |
| 35 | | START-Eltern einerseits die Türken: 50 Prozent von ihnen finden sich in |
| | | der niedrigen Bildungsstufe (also höchstens Hauptschulabschluss oder |
| | | gar keinen Schulabschluss). Und andererseits die jüdischen |
| | | Kontingentflüchtlinge. Alle von ihnen haben hohe Bildungsabschlüsse, |
| | | mindestens eine Hochschulzugangsberechtigung, meistens einen |
| 40 | | Hochschulabschluss, selbst Habilitationen kommen vor. |
6 | | | Allerdings schaffen es die gut ausgebildeten Eltern wider Erwarten nur |
| | | selten, zu einer entsprechenden Arbeitsmarktintegration vorzustoßen. Die |
| | | Väter sind doppelt, die Mütter sogar dreimal so häufig arbeitslos wie |
| | | Angehörige anderer Einwanderergruppen. Die Anerkennung ihrer |
| 45 | | akademischen Zeugnisse stellt eine oft unüberwindbare Hürde dar. Jeder |
| | | kennt die putzenden Mathematikerinnen oder die Ingenieure, die als Maler |
| | | tätig werden. |
7 | | | Die Untersuchung zeigt, dass der hohe Zusammenhang von Bildungs- |
| | | grad der Eltern und Bildungschancen in der deutschen Gesellschaft – |
| 50 | | durch die Pisa¹-Studie rügend festgestellt –, in der Einwanderungs- |
| | | gesellschaft reproduziert wird. Die Stiftung erreicht mit ihrem |
| | | Stipendienprogramm hauptsächlich Schüler, die ein hohes Potenzial |
| | | mitbringen. Sie hilft, einen Teil der Immigrationsprobleme zu |
| | | kompensieren, schafft es aber nicht, in größerem Umfang Schüler aus |
| 55 | | bildungsfernen und sozial schwachen Familien zu gewinnen. |
8 | | | Liegt es an der unterschiedlichen Durchsetzungsfähigkeit der |
| | | Bewerber oder am selektiven Auswahlverfahren? Es sind hauptsächlich |
| | | Lehrer, die Schüler auf das Programm hinweisen. Der Verdacht liegt |
| | | nahe, dass Lehrer das Potenzial der Kinder aus bildungsfernen Eltern- |
| 60 | | häusern schlechter ausloten können, als ihnen das bei Kindern aus |
| | | bildungshungrigen Familien gelingt. |
9 | | | Stipendiaten aus den Familien mit hohen Bildungsgraden werden in |
| | | ihrem Streben nicht nur fachlich unterstützt, sondern auch noch von den |
| | | Eltern angetrieben. Sie sind aufgrund ihrer Vorbildung auch eher in der |
| 65 | | Lage, das deutsche Schulsystem zu durchdringen. So brachte die |
| | | Untersuchung an den Tag, dass 25 Prozent der gut ausgebildeten |
| | | Zuwanderereltern sich um die beste Schule für ihr Kind kümmerten. Bei |
| | | den Stipendiaten aus Familien mit niedrigem Bildungshintergrund, wozu |
| | | oft türkische Eltern zählen, taten das nur 13 Prozent, sie scheinen sich |
| 70 | | eher an die Empfehlungen der Grundschullehrer zu halten oder die Nähe |
| | | der Schule zum Kriterium zu machen. Die Zahlen der neuesten |
| | | Untersuchung zur Bildungsintegration des Berlin-Instituts bestätigen viele |
| | | der Ergebnisse der START-Studie. |
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| | | Zeit Online 2009 |
noot 1 Pisa: Das „Programme for International Student Assessment“ der OECD ist eine internationale Vergleichsstudie zu den Schulleistungen in verschiedenen Ländern.