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Das Paradies muss warten

Das Paradies muss warten

1     In Remscheid können keine Kitas¹ mehr gebaut werden. In
 Pirmasens haben sie es aufgegeben, die alten Schulen zu renovieren.
 Grund: die komplizierten Normen und Vorschriften. Brandschutztüren,
 vorgeschriebene Abstellkammergröße, Zahl der Waschbecken, alles
5 irgendwie sinnvoll, aber beim besten Willen nicht mehr zu bezahlen. Und
 in der kommenden Woche muss ein Gericht klären, ob die Ostdeutschen
 ein eigener Volksstamm sind, ähnlich wie die Siouxindianer oder die
 Zapoteken. Anlass ist die Ablehnung einer Stellenbewerberin, die auf
 ihren zurückgeschickten Unterlagen den Vermerk „Ossi“ gefunden hat.
10 Deswegen klagt sie.
 
2     Im Antidiskriminierungsgesetz von 2006 ist genau festgelegt, welche
 Diskriminierungen verboten sind. Verboten sind Ablehnungen von
 Bewerbern wegen ihrer Rasse, ihrer ethnischen Herkunft, ihres
 Geschlechts, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und
15 sexueller Identität. Letztere Formulierung hat gegenüber „sexueller
 Orientierung“ den Vorzug bekommen, damit zum Beispiel auch Transen
 geschützt sind, eine Transe kann ja stockhetero orientiert sein. Wenn
 also jemand am Rand einer abgelehnten Bewerbung das Wort „blond!“
 oder „gepierct!“ liest, muss der Bewerber nachweisen können, dass er
20 aus weltanschaulichen Gründen blond ist, oder aus rein sexuellen
 Gründen gepierct, nicht aus [id:83445] . Da muss man sich also das Piercing
 sehr genau anschauen. „Lehrertochter!“ geht, weil im deutschen Gesetz,
 anders als in der EU-Charta, Diskriminierungen wegen der sozialen
 Herkunft nicht ausdrücklich verboten sind. Auch darf eine katholische
25 Schule einen Sikh mit Turban als Schulleiter ablehnen, aber nur wegen
 seines Glaubens.
 
3     Im alten Paragraphen 3 des Grundgesetzes stand eigentlich schon
 alles drin – sinngemäß: alle, ob Ossi, Brillenträger oder Sikh, sind vor
 dem Gesetz gleich, basta. Die kaputten Kitas von Remscheid und der
30 absurde Ossiprozess haben eine gemeinsame Wurzel: Seit Jahren gibt
 es diese Tendenz, alles bis ins kleinste Detail zu regeln und zu normieren,
 aber je genauer man etwas vorschreibt, desto mehr Ausnahmeregelungen
 sind nötig, desto mehr Lücken tun sich auf. Es hat, bei allem
 Eifer, nie ein Ende, und das Paradies auf Erden kommt trotzdem nicht.
 
 Tagesspiegel, 11.04.2010

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