In der Grauzone der Folter¹ | |||
1 | Seit die Administration Obama Memoranden der Vorgängerregierung mit | ||
detaillierten Angaben zu den Folterpraktiken der CIA veröffentlicht hat, ist die | |||
Empörung gross. Dass der Terrorist Khalid Sheikh Mohammed in einem Monat | |||
183 Mal dem Waterboarding, dem simulierten Ertrinken, unterzogen wurde, | |||
5 | erregt zu Recht Abscheu. Gerade auch in Europa sieht man sich in seiner | ||
Meinung über Präsident Bush und dessen „Krieg gegen den Terror“ bestätigt. | |||
Dabei schwingt allerdings beiderseits des Atlantiks eine gehörige Portion | |||
Heuchelei mit. Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 bevölkerten | |||
unzählige Experten die Talkshows und referierten über das Versagen der | |||
10 | Nachrichtendienste, deren geringes Wissen über al-Kaida und die | ||
Notwendigkeit, rasch verwertbares Geheimdienstmaterial zu liefern. Dies hat die | |||
CIA getan, allein 3000 Berichte über die Verhöre mit den wichtigsten | |||
Gefangenen. | |||
FAHNDUNGSERFOLGE | |||
2 | Die anfänglich tatsächlich nicht sehr detaillierten Kenntnisse über den | ||
15 | islamistischen Terrorismus gewannen in der Folge deutlich an Kontur. Wichtige | ||
Personen im Geflecht der Kaida wie die Terroristen Hambali in Thailand und | |||
Dhiren Barot in Grossbritannien wurden verhaftet. Die wachsende Vertrautheit | |||
mit den Gedankengängen der Islamisten, deren Methoden und Akteuren half | |||
gerade in Europa, in die terroristische Szene einzudringen und Netzwerke | |||
20 | auszuheben. In Grossbritannien konnten Planungen für Anschläge auf | ||
Flugzeuge und in Deutschland Vorbereitungen für Attentate auf amerikanische | |||
Einrichtungen vereitelt werden. Wer die Anwendung „aggressiver | |||
Befragungstechniken“ prinzipiell ablehnt, akzeptiert, dass der Polizei dann | |||
vielleicht wichtige Informationen nicht zur Verfügung stehen – vor allem dann, | |||
25 | wenn die Reaktionszeit knapp ist. | ||
3 | Aus moralischer Sicht gibt es hingegen keine Rechtfertigung für Folter. In | ||
rechtsstaatlichen Demokratien sind Menschenwürde und Grundrechte an das | |||
Individuum gebunden. Enthält man sie dem Einzelnen vor, hat das System | |||
insgesamt versagt. Die Güterabwägung, ob man einen Verdächtigen foltern | |||
30 | dürfe, um Unschuldige zu retten, führt daher unweigerlich zur Erosion | ||
rechtsstaatlicher Grundsätze. Konsequent zu Ende gedacht, geht es nicht mehr | |||
um die unantastbare Würde des Individuums, sondern um die Frage: Ab wie | |||
vielen gefährdeten Leben ist es erlaubt, fragwürdige Praktiken anzuwenden? | |||
AUSHÖHLUNG DER FREIHEIT | |||
4 | Im Widerstreit zwischen Sicherheitsbedürfnis und Moral haben sich auch | ||
35 | Demokratien immer wieder entschieden, die selbst gezogenen Grenzen zu | ||
verletzen: Frankreich im Algerienkrieg, die USA in Vietnam, Grossbritannien im | |||
nordirischen Bürgerkrieg, Israel im Palästinakonflikt. Die Anwendung von Folter | |||
oder anderen illegalen Methoden geschieht zunächst oft mit dem | |||
komplizenhaften Einverständnis der Öffentlichkeit, alles Erforderliche zu tun, um | |||
40 | die Gefahr abzuwenden. Sobald das Bedrohungsgefühl nachlässt, kommt es | ||
jedoch meist zur Kehrtwende. Die Öffentlichkeit verlangt nach der | |||
Wiederherstellung der Grundrechte, weil man in den entsprechenden Praktiken | |||
nicht mehr ein Mittel zum Schutz des eigenen Lebens, sondern das Einfallstor | |||
für die Aushöhlung der eigenen Freiheit sieht. Hier liegt, jenseits der Abwägung | |||
45 | von rechtsstaatlichen Prinzipien und Notstandsrecht, ein zentrales Argument | ||
gegen Folter. Sie zerstört das Vertrauen der Bürger in den Staat und dessen | |||
Institutionen. | |||
EUROPÄISCHE KOMPLIZENSCHAFT | |||
5 | Gleichwohl sollten die Europäer nicht mit dem Finger auf die USA zeigen. | ||
Die Geheimdienste der grossen EU-Länder haben bei ihrer Terrorbekämpfung | |||
50 | unmittelbar von den in amerikanischen Geheimgefängnissen abgepressten | ||
Informationen profitiert. Allen Kundigen war klar, auf welche Weise die Dossiers | |||
zustande kamen. Regierungen wie die deutsche [id:68452], dass eigene | |||
Staatsbürger bei Auslandreisen von der CIA aufgegriffen und, wie in einem | |||
konkreten Fall, in ein syrisches Verlies geschafft wurden. In Terrorprozessen in | |||
55 | Hamburg, in München und jetzt in Düsseldorf spielen immer Erkenntnisse eine | ||
Rolle, die aus amerikanischen Verhören stammten – oder, noch fragwürdiger, | |||
von den Geheimpolizeien Pakistans, Kasachstans und der nordirakischen | |||
Kurden. Das Thema Folter verlangt nach unzweideutigen Antworten – Schwarz | |||
oder Weiss –, und doch bewegen sich alle grossen europäischen Länder in | |||
60 | einer Grauzone. | ||
Neue Züricher Zeitung |