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www.sauersein.de

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Kaputte Gitarre, falscher Irokese, schlimmer Fotoklau: Das Internet ist
mittlerweile der größte Kummerkasten der Welt. Eine Beschwerde.
 
1    Dave Carroll aus der kanadischen Provinzstadt Halifax ist ein Mann, den
 man in anderen Zeiten überhört hätte. Seit Jahren tingelt er mit seinem Bruder
 Don als Countryduo Sons Of Maxwell durch die Lande, erfolgreich waren die
 beiden nie. Am 31. März letzten Jahres nun machten sich die Brüder per
5 Flugzeug auf den Weg nach Omaha. Auf dem Chicagoer Flughafen hatte ihre
 Maschine eine Zwischenlandung, und dort beobachteten sie, wie Arbeiter das
 Gepäck ihres Fluges rüde umluden. Als Dave Carroll seinen Gitarrenkoffer in
 Omaha schließlich wieder in Empfang nahm, fand er darin seine 3500 Dollar
 teure Klampfe schlimm beschädigt. Carroll tat, was man als Kunde in so einer
10 Situation tut, er beschwerte sich. United Airlines reagierte so, wie man das als
 Konzern in so einer Situation tut, nämlich erst mal gar nicht.
2    In anderen Zeiten hätte man Dave Carroll geraten, den Fall seiner
 Versicherung zu übergeben. Man hätte die Sache vielleicht einfach Pech
 genannt und Carroll gefragt, warum er seinen Gitarrenkoffer denn überhaupt
15 aufgegeben habe, man wisse doch, was Fluglinien mit Gepäck so anstellen.
 Fluglinien, hätte man gesagt, sind dazu da, ihre lebende Fracht auch wirklich
 lebend von einem Ort zum anderen zu bringen. Alles andere verzeihen wir
 Passagiere ihnen dann ja gern: lausiges Essen, null Beinfreiheit, brülldoofe
 Heiratskomödien als Bordfilm, das Rauchverbot. Verglichen damit ist kaputtes
20 Gepäck eher ein Kollateralschaden.
3    Dave Carroll aber wollte nicht einfach Pech haben, er bestand auf dem, was
 er für sein Recht hielt, und wurde leider kreativ. Carroll komponierte ein fideles
 Klagelied namens „United Breaks Guitars“, dessen Text allerdings holpert wie
 ein Jumbojet, der auf einem Acker landet; dazu drehte er ein kleines Video mit
25 schunkelnden Gepäckarbeitern und stellte es vor vier Wochen bei YouTube ein.
 Und weil Internetnutzer eine Tendenz zur [id:68419] haben, sobald etwas im Netz
 kursiert, das häufig leider nur angeblich lustig ist – haben mittlerweile mehr als
 vier Millionen Menschen dieses Video gesehen. United Airlines bot Carroll
 daraufhin an, seine Gitarre reparieren zu lassen und ihm Tickets im Wert von
30 1200 Dollar zu schenken; der forderte die Fluglinie stattdessen auf, den Betrag
 zu spenden, und plant derweil sein nächstes United-Video.
4    Das Beschwerdewesen, lernen wir, hat sich im Internetzeitalter gewandelt:
 Es geht womöglich nicht mehr so sehr ums Rechthaben und Rechtbekommen,
 sondern darum, seine Beschwerde mit dem größtmöglichen Effekt öffentlich zu
35 machen. Denn der Aufwand, den Carroll betrieb, stand in keinem Verhältnis
 mehr zu seinem Schaden, und die Wirkung tut es nun ebenso wenig. Das Netz
 hat sich zu einem gewaltigen und höchst unberechenbaren Kummerkasten
 entwickelt, vor dem sich Konzerne fürchten. Die Kultur des kritischen
 Konsumenten nennt man, was da im Internet eine ideale Öffentlichkeit und sein
40 Utopia gefunden hat. Früher schrieb man nutzlose Beschwerdebriefe an
 Behörden, Firmen, wen auch immer, jetzt bildet sich um jede Beschwerde gleich
 eine aufgeregte Herdenformation, eine Art situative Pressure Group.
5    Wird die Welt dadurch aber wirklich besser? Das Unrecht lauert ja trotzdem
 weiter immer und überall, es scheint sich im und durch das Internet eher noch
45 zu vervielfachen. Gerade rauscht zum Beispiel eine Welle der Empörung durch
 Facebook: Jemand hat herausgefunden, dass die soziale Netzwerkplattform an
 ihre Werbekunden das Recht verkauft hat, Privatfotos der Facebook-Mitglieder
 für Anzeigen zu verwenden. Eine luzide, aber ziemlich kreative Geschäftsidee.
 Nun beschweren sich zigfach Mitglieder, indem sie andere auf Facebook vor
50 Facebook warnen. Sie könnten auch still und leise die Nutzung ihrer Fotos
 untersagen, mit einem einzigen Mausklick; sie könnten auch einfach ihre Fotos
 löschen. Aber das wäre ja [id:68422]. Also beschweren sie sich lieber lautstark.
6    Was hat man dem Internet nicht schon alles vorgeworfen; es töte die Musikund
 Filmindustrie, es verbreite ungehindert Pornographie, lauter schlimme
55 Sachen. Dass es außerdem zur größten Beschwerdestelle der Welt geworden
 ist, darüber beschwert sich [id:68423] niemand. Dabei ließe sich aus der Klage
 bestimmt ein Superlied machen, und das Video dazu, das drehte sich quasi von
 selbst.
 
 Süddeutsche Zeitung