LITERATUR | ||||
Lust und Verlust | ||||
Altmeister Siegfried Lenz überrascht mit einer | ||||
kleinen, traurigen Liebesnovelle - einem seiner | ||||
schönsten Bücher | ||||
1 | Natürlich ist er ein Gestriger. Einer, der von früher | |||
erzählt. Aber waren nicht schon immer die Alten die | ||||
besten Geschichtenerzähler? Um [id:69134] hat sich | ||||
Siegfried Lenz nie geschert. Nie war er der Mann im | ||||
5 | Strom. Er hat es nie nötig gehabt, auf die Pauke zu | |||
hauen, aufs Blech zu trommeln. Seinem Publikum ist | ||||
er nie nachgelaufen. Musste er auch nicht. Es hält | ||||
ihm die Treue, folgt ihm, weiß, was es an ihm hat. | ||||
2 | 82 ist er im März geworden. Andere seiner | |||
10 | Generation, Martin Walser oder Günter Grass, haben | |||
in den letzten Jahren mit Alterserotik aufgetrumpft, | ||||
mit Büchern wie „Angstblüte“ oder „Letzte Tänze“, die | ||||
wohl zeigen sollten, dass sie es (noch) können - das Schreiben über [id:69135]. Nicht | ||||
wenige ihrer Leser, Leserinnen vor allem, haben ihnen ihre Derbheiten um die Ohren | ||||
15 | gehauen. „Ekelhaft“ fand zum Beispiel Fernsehkritikerin Elke Heidenreich den späten | |||
Sturm und Drang der Herren. | ||||
3 | Und nun also auch Siegfried Lenz. Auf die ganz alten Tage kommt auch er mit einem | |||
Buch daher, das von einer Liebesaffäre erzählt. Von Sex am Strand und zerwühlten | ||||
Betten. Oh je, fürchtet man, es hat ihn in Feuchtgebiete verschlagen, in denen er nur | ||||
20 | versinken kann. | |||
4 | [id:69137] liest man sich fest in diesem Buch, das die alte Geschichte erzählt von Lust | |||
und Verlust und einen doch gefangen nimmt und so schnell nicht wieder loslässt. Es ist | ||||
die Geschichte des Gymnasiasten Christian, der in der Aula seiner Schule steht bei der | ||||
Trauerfeier für seine Englischlehrerin. Alle mochten sie, die junge, frische, fröhliche | ||||
25 | Frau Petersen. Christian aber hat sie geliebt. Seine Stella, mit der er sich heimlich am | |||
Strand traf. Mit der er schwamm in der Nordsee und die er nachts besuchte in ihrem | ||||
Zimmer in der kleinen Pension. Mit der er leben wollte in der alten Hütte drüben auf der | ||||
Vogelinsel. | ||||
5 | [id:69138] erzählt Siegfried Lenz von dieser unmöglichen Liebe. Und von der Sehnsucht | |||
30 | der beiden, sie irgendwie doch möglich zu machen. Vorsichtig nähern sie sich einander | |||
an. Es ist eine Verführung der kleinen Gesten. | ||||
6 | Mal streichelt Christian seiner Lehrerin über den Rücken und ahnt, dass sie seine | |||
Hand spüren will. Mal geht sie voran in das Pensionszimmer, und er weiß, dass er | ||||
folgen soll: „Stella forderte mich nicht auf, sie zu begleiten, sie setzte einfach voraus, | ||||
35 | dass ich mit ihr ging.“ | |||
7 | Ohne viel Worte kommt diese Liebe aus, und ohne Wortgeklimper auch Siegfried | |||
Lenz. Sparsam setzt er die Geschichte in Szene. Vorsichtig, wie die Liebenden, tastet er | ||||
sich voran. Und auch die „unerhörte Begebenheit“, die zur Novelle gehört und das Glück | ||||
des Paares zerreißt, schildert er mit sachlicher Zurückhaltung. Nein, ein Krawallautor ist | ||||
40 | aus ihm nicht geworden, [id:69139]. Das Laute ist seine Sache nicht. Er erzählt eine | |||
Liebesgeschichte, ohne Effekthascherei, ohne Provokation - und gerade deshalb | ||||
anrührend schön. | ||||
Focus |