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Der globalisierte 20. Juli

 Operation Walküre
 

Der globalisierte

 

20. Juli

 
1    Hitlercide, frei übersetzt „Hitlermord“, ist eine
 der neuesten amerikanischen Vokabeln. Es gibt
 kaum einen besseren Beleg dafür, dass der 20.
 Juli 1944 in der Populärkultur angekommen ist.
5 Nach den Weihnachtsferien, so berichtet eine
 amerikanische Zeitung, wollten die Schüler über
 Geschichte reden. Sie hatten zwischen den
 Jahren „Operation Walküre“ gesehen und
 fragten nach mehr.
 
210    In den Vereinigten Staaten, wo mittlerweile
 weit über zehn Millionen Menschen den Film
 sahen, in Großbritannien und Südkorea, überall,
 wo er angelaufen ist, wurde über den gescheiterten Staatsstreich vom 20. Juli
 berichtet. „Die Kritiker sollten aufhören, sich zu beschweren“, schrieb der „Evening
15 Standard“, „nur Gutes kann aus einem Kino kommen, das die Vergangenheit
 erinnert.“ Gerade in Britannien, wo seit Churchills Rede zum 20. Juli die These
 vorherrschte, es habe sich allein um einen rein internen Nazi-Machtkampf gehandelt,
 deutet sich damit ein Wandel an.
 
 Eine erstaunliche Leistung
320    Doch die Nachricht dringt nicht nur in die großen Zeitungen, sondern in alle
 Winkel einer hoch ausdifferenzierten Medien- und Internetwelt. Hollywood hat
 erreicht, was nur Hollywood kann: eine international weitgehend unbekannte
 Geschichte und ihr Motiv zu globalisieren. Und Hollywood hat erreicht, was
 Hollywood nicht immer kann: dem Thema gerecht zu werden. Das ist für einen Film,
25 in dem letztlich, wie es einer der Autoren formulierte, nur ein paar Männer in
 Wehrmachtsuniformen miteinander reden, eine erstaunliche Leistung. Was Philipp
 von Boeselager, einer der letzten Überlebenden des 20. Juli, kurz vor seinem Tod
 erhoffte, ist eingetreten: Der Film macht die Tatsache des Hitler-Attentats weltweit
 bekannt. Dabei geht es nicht darum, dass Deutschland jetzt eine Touristenattraktion
30 wird, wie Neuseeland nach „Herr der Ringe“. Der 20. Juli ist geschehen, damit von
 ihm erzählt werden kann. In den berühmten Worten Henning von Tresckows: damit
 „die Welt und die Geschichte“ trotz der Aussichtslosigkeit des Unternehmens weiß,
 dass es einen Widerstand gegen Hitler gab. Davon weiß jetzt auch ein 16 Jahre alter
 Schüler in Iowa oder Seoul.
 
435    Deshalb sind Debatten über Einzelfragen historischer Authentizität [id:69116] . Von
 den angeblich „unsäglichen“ historischen Fehlern bleibt nun vor allem, dass Hitler
 nicht in einer Ju-52 flog und Stauffenberg sich nicht unmittelbar vor dem Attentat
 rasierte. Für alle anderen Lizenzen haben die Drehbuchautoren dramaturgische und
 intellektuelle Gründe angegeben. Peter Hoffmann, gewiss einer der besten Kenner
40 des 20. Juli, hat den Film als „im wesentlichen vollkommen wahr“ bezeichnet.
 
 Die Fiktion des Nichtwissens
5    Man muss sich heute nicht mehr der Vorgeschichte dieses Films zuwenden, die
 von verständlichen Sorgen, sei es wegen einer Sekte, sei es wegen der
 Quellentreue, geprägt war, aber leider auch von großer Verantwortungslosigkeit, die
45 den Misserfolg des Unternehmens von Anfang an voraussetzte, ja herbeiwünschte.
6    Dieser Film war weit mehr als ein finanzielles Risiko für die Produzenten. Die
 Ambivalenz, die Zerrissenheit, die die Deutschen angesichts der politischen Defizite
 der Verschwörer empfinden, sind nicht das Privileg der Deutschen allein. Das „Was
 wäre, wenn“, das jedes Nachdenken über einen misslungenen Staatsstreich
50 begleitet, hat eine Schattenseite, die noch heute ungezählte Biographien verdunkelt.
 Man hätte zum Beispiel nur einmal mit Gil Adler reden müssen, einem der
 Produzenten des Films, der morgens auf dem Weg zum Set über die Berliner
 „Stolpersteine“ ging, auf denen die Namen der Deportierten eingraviert sind. Ein
 Schicksal, das auch ihn ereilt haben könnte.
 
755    Hier, wie überhaupt bei jedem Blick in die Verbrechensgeschichte des Dritten
 Reichs, kann die Botschaft des 20. Juli nicht „entlastend“ sein, wie eine andere
 Befürchtung hieß. Dem Versuch, das NS-Regime mitsamt seiner moralischen
 Verwerflichkeit gleichsam in einer „Bad Bank“ zu entsorgen, um dafür einen
 strahlenden Widerstand gewinnbringend exportieren zu können, widersetzt sich
60 dieser Film. Die Botschaft des 20. Juli ist höchst ambivalent. Wie in „Schindlers
 Liste“ stellt sich die Frage, warum anderen nicht möglich war, was diesen möglich
 war. Die Antwort lautet, dass viele nicht wollten und einige nicht konnten. Die ganz
 umständliche Struktur der Verschwörung erklärt sich daraus, dass die Beteiligten
 wussten, dass sie auf Rückhalt in der Bevölkerung nicht vertrauen konnten. Und die
65 Verschwörung sowie der Prozess vor dem Volksgerichtshof zeigen, wie viele
 Menschen in allen Befehlsketten des Regimes von den Verbrechen an den Juden
 wussten, von denen etwa ein Albert Speer bis zuletzt keine Ahnung gehabt haben
 wollte. Das sind Fragen, die uns der Film nicht abnimmt, aber die sich stellen, weil er
 uns tagelang verfolgt. Wie jene, die einmal Carl Goerdeler stellte: Man müsse
70 öffentlich von Konzentrationslagern und der Ausrottungspolitik erzählen, dann werde
 ein Volksaufstand losbrechen. Es hätte dann nicht mehr die Fiktion des Nichtwissens
 gegeben. Aber wie wäre die Antwort gewesen?
 
  Frankfurter Allgemeine Zeitung