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Modernes Leben

Modernes Leben

    
„Nicht nur fantasieren!“
    
Psychologieprofessor Hans-Werner Wahl beschreibt Gewinner und Verlierer der
Vereinzelung und den therapeutischen Nutzen einer Gruppenreise.
    
 FOCUS: Professor Wahl, neuerdings verkünden Studien, Singles lebten ähnlich
 zufrieden und gesund wie Verheiratete. Aus wissenschaftlicher Sicht spricht also
 nichts gegen das Solo-Sein?
 Wahl: Unsere Untersuchungen zeigen in der Tat: Partnerlose weisen nicht generell
5 schlechtere Daten auf. Die Vorstellung, Singles seien einsam, krank und pessimis-
 tisch, ist so pauschal wie falsch, ebenso das Stereotyp vom konsumorientierten
 Egoisten, der sich denkt: nach mir die Sintflut. Ich denke, die [id:61175] ändert sich
 auch.
 
 FOCUS: Inwiefern?
10 Wahl: Individualisierung und Wertewandel bringen größere Offenheit für
 unterschiedliche Lebensformen, auch für Partnerlosigkeit. Man wird ernst
 genommen als allein lebender Mensch: Werbewirtschaft, Lebensmittelindustrie und
 die Reisewirtschaft tun das längst. Es findet weniger Stigmatisierung statt.
 
 FOCUS: Führt das zu mehr Gelassenheit?
15 Wahl: Singles äußern sich in unseren Untersuchungen zum großen Teil zufrieden
 mit ihrer Autonomie. Sie schaffen es, mit ihren Ressourcen und sozialen Netzwerken
 vieles zu kompensieren, was in Ermangelung einer Familie oder eines Partners fehlt.
 Man hat eine Freundschaft für Aktivitäten am Wochenende, eine andere für Kultur
 am Dienstag, und so gelingt es, sich mit einem anregungsreichen, durch sozialen
20 Austausch bestimmten Leben zu stabilisieren. Das ist eine Leistung, denn sie
 erfordert permanente Aktivität.
 
 FOCUS: Frauen, hört man häufig, falle dies leichter. Stimmt das?
 Wahl: Frauen tun sich nach einer Durststrecke im beharrlichen Aufbau sozialer
 Kontakte leichter als Männer. Sie scheinen mehr, länger dauernde und engere
25 Freundschaften zu unterhalten als Männer. Freundinnen sind oft von fast partners-
 chaftsersetzender Bedeutung, auch der Kontakt zu Verwandten ist enger. Für das
 Alleinleben scheinen sie besser gerüstet zu sein als Männer. Die weiblichen
 Alleinlebenden haben sich stärker von der traditionellen Rolle entfernt als die
 Männer, sie empfinden Autarkie und persönliche Entwicklung auch als [id:61177] .
 
30 FOCUS: Gleichzeitig leiden 58 Prozent der Single-Frauen im mittleren
 Erwachsenenalter an psychischen Erkrankungen wie Depressionen.
 Wahl: Das ist richtig. Besonders gefährdet sind gebildete, berufstätige Allein-
 erziehende. Das ist durch die Belastung ein Risikoprofil. Bei den Männern sind die
 Verlierer eher die weniger gebildeten Geschiedenen ab etwa 40 Jahren. Bei ihnen ist
35 der Gesundheitszustand am schlechtesten, außerdem ist hier das Suizidrisiko am
 höchsten. Interessanterweise negieren Männer diese Probleme stärker als Frauen.
 Besonders zufrieden zeigt sich übrigens die Gruppe der älteren Witwen: Sie haben
 meist noch Familie und ein gutes Netzwerk.
 
 FOCUS: Gibt es psychologische Indizien, warum manche Menschen in Beziehungen
40 leben und manche ohne Partner?
 Wahl: Wir haben Hinweise gefunden, dass es vielleicht kein Zufall ist, wenn man
 diese Lebensform geraten ist. Singles neigen in etwas stärkerem Maße zu Neuroti-
 zismus, zeigen weniger Toleranz, etwas negativere Haltungen, auch etwas höhere
 Raten in gesundheitlicher und psychischer Beeinträchtigung.
 
45 FOCUS: Bestätigt das nicht doch alte Vorurteile?
 Wahl: Nein. Von generellem Leid können wir nicht sprechen. Eher von Ambivalenz:
 Auf der einen Seite findet sich ein gutes Arrangement mit den Lebensumständen,
 der anderen Seite steht die Frage: Wird das immer so bleiben? Da bleibt eine
 Sehnsucht. 80 Prozent der Singles sagen uns: Sie würden eine Partnerschaft nicht
50 ausschließen, wenn denn der Richtige käme.
 
 FOCUS: Wie stehen die Chancen?
 Wahl: Nun... Für die einzelne Person und ihre Zufriedenheit spielt die Perspektive
 eines Partners eine große Rolle: Man hat sich in seinem Leben eingerichtet, hat
 stabilen Boden unter den Füßen und lebt dennoch mit einer Hoffnung nach vorn.
55 Man spürt ein Grunddefizit, aber es zieht einen nicht jeden Tag nach unten.
 Dennoch, würde man es retrospektiv betrachten, müsste man wohl sagen: Die
 Meisten werden mit großer Wahrscheinlichkeit allein bleiben.
 
 FOCUS: Das zufriedene Arrangement basiert also auf einer Illusion?
 Wahl: Auf einer Möglichkeit! Aber ich gebe zu, die Ambivalenz ist stark. Freiheit
60 und Autonomie stehen gegen Intimität und Geborgenheit. Und arrangieren muss
 man sich auch in Paarbeziehungen, die vielfach von stresshaften Konflikten
 gekennzeichnet sind. Nur: Da kann man Beziehung auch üben. Wir wissen aus
 Paarentwicklungsstudien, dass Beziehungen kein [id:61179] sind. Da muss man viele
 Kompromisse eingehen. Die Wahrscheinlichkeit einer neuen Beziehung ist für
65 Singles nicht sehr hoch, wenn man das nicht trainiert.
 
 FOCUS: Das klingt tragisch. Was rät der Psychologe?
 Wahl: Tragisch würde ich es nicht nennen, denn Singles haben oft eine
 überzeugende Lebensform für sich gefunden. Wenn sie aber doch ein intensives
 Bedürfnis nach Partnerschaft spüren, wäre der naheliegende Rat, Partnerschaft zu
70 erleben. Man darf jedenfalls nicht nur fantasieren.
 
 FOCUS: Was würden Sie tun, um jemanden kennen zu lernen?
 Wahl: Mich einer Gruppenreise anschließen. Da ist man für sich, könnte sich aber
 dosiert neue soziale Erfahrungen verschreiben.
 
 FOCUS: Wird die Singularisierung unsere Gesellschaft psychologisch verändern?
75 Wahl: Ja. Das Leben wird zunehmend von längeren Phasen des Alleinseins geprägt
 sein. Das ist eine Zukunftsentwicklung, von der wir noch nicht wissen, wie sie Leben
 im Alter verändern wird. Ich würde mir wünschen, dass man sich mehr mit neuen
 Lebensformen beschäftigt, mit Optionen wie Mehrgenerationenhäusern, Wohn-
 gemeinschaften für Ältere und Ähnlichem. Dieser Realität müssen wir ins Auge
80 sehen.
       Focus