Romanfragment uit: Alex Capus, Fast ein bisschen Frühling (bewerkt) Plaats: een warenhuis in Basel (Zwitserland) Tijd: 1933 |
1 | Dorly streicht sich übers Haar und rückt | rade! Nicht auf die Füße schauen! Hände | ||||
ihren weißen Kragen zurecht. „Ich muss | nach oben!“ Der Österreicher ist ein sehr | |||||
zum Mittagsdienst.“ Sie läuft hinunter in | schlechter Tänzer, aber er gehorcht, macht | |||||
die Schallplattenabteilung, um ihre Vor- | tapsige Schritte und Drehungen und zwin- | |||||
gesetzte, die Erste Verkäuferin, abzulösen. | kert seinem kleinen Freund zu, dem Fin- | |||||
Mittags gibt es hier wenig Kundschaft. | nen. Der lehnt an einem Betonpfeiler, hat | |||||
Dorly legt einen Tango auf und staubt | die Hände in den Manteltaschen vergraben | |||||
Regale ab. Sie genießt das Alleinsein. Noch | und schaut zu. Endlich ist das Stück zu | |||||
immer ist ihr heiß von den Händen ihrer | Ende, die Nadel schabt durch die leere | |||||
Kolleginnen und von deren Geschwätz. | Rille. | |||||
Dieses ständige Geschwätz! Jeden Mittag | 4 | Dorly geht zurück hinter den Tresen, | ||||
muss unbedingt ein Skandal losbrechen, | versteckt den Staubwedel irgendwo und | |||||
und dann sind sie alle empört – eine | rückt ihren Rock zurecht. Der Große bedankt | |||||
empörter als die andere, ein richtiger | sich artig. Sie bemerkt an seinem | |||||
Wettstreit, denn der Grad der Empörung | Akzent, dass er kein Österreicher ist, son- | |||||
gilt als Maß für die eigene Rechtschaffen- | dern Deutscher, aus dem Norden vermut- | |||||
heit. Je empörter, desto ehrbarer. | lich. Im Augenwinkel sieht sie, dass der | |||||
2 | Ein Glockenschlag, die rote Lifttür geht | Kleine sich vom Betonpfeiler löst und auf | ||||
auf. Kundschaft. Dorly dreht sich um, den | sie zukommt. Der ist seltsam. Der Große | |||||
Staubwedel in der Hand. Zwei junge Män- | ist ja schon seltsam, aber der Kleine ist | |||||
ner. Gutangezogene junge Männer in | noch viel seltsamer. Dorly ist plötzlich sehr | |||||
Knickerbockers, teuren Tweedmänteln und | damit beschäftigt, ihr Geschenkpapier, ihre | |||||
mit nach hinten gekämmten Haaren. Das | Schere und die goldenen Bändel in Ord- | |||||
Grammophon spielt weiter Tango. Jung | nung zu bringen. | |||||
sind die Burschen, und seltsam. Bestimmt | 5 | „Die beiden waren zwei durchaus | ||||
sind’s keine Hiesigen. Einen Hiesigen | gegensätzliche Charaktere“, sollte Dorly | |||||
erkennt Dorly auf den ersten Blick – | Schupp fünf Wochen später aussagen, als | |||||
woran, das wüsste sie nicht zu sagen. Man | sie nachts um zwei Uhr vom Basler Ersten | |||||
kommt einander einfach bekannt vor, auch | Staatsanwalt einvernommen wurde. „Kurt | |||||
wenn man sich noch nicht begegnet ist. | Sandweg war ein kindlicher Draufgänger, | |||||
Diese beiden hingegen sind wahrscheinlich | der gerne lachte und das Blaue vom Him- | |||||
Ausländer. Der Große hat einen freund- | mel reden konnte. Waldemar Velte war ein | |||||
lichen Blick wie, sagen wir, ein Öster- | ernster Typ, der nur den Mund aufmachte, | |||||
reicher. Und der Kleine könnte gut ein | wenn er etwas mitzuteilen hatte. Mir | |||||
Finne sein, so grimmig, wie der drein- | waren beide von Beginn weg sympathisch, | |||||
schaut. | besonders aber Velte, gerade weil er kein | |||||
3 | Dorly muss an den zwei Burschen vor- | Charmeur war.“ | ||||
bei, um hinter den Verkaufstresen zu ge- | Der Kleine bleibt vor dem Tresen | |||||
langen. Das Grammophon spielt noch | stehen und wartet, bis Dorly ihn anschaut. | |||||
immer Tango. Da deutet der größere, der | Er ist kaum größer als sie, vielleicht sogar | |||||
Österreicher, eine Verbeugung an und | ein bisschen kleiner, wenn man seine | |||||
wirft sich in Tanzpositur – und weil er so | ziemlich hohen Absätze in Rechnung stellt. | |||||
bubenhaft unbeholfen lächelt, nimmt | „Bitte, Fräulein – ich möchte eine | |||||
Dorly die Aufforderung zum Spaß an und | Schallplatte kaufen.“ | |||||
tanzt ein paar Schritte mit ihm im lang- | „Ja?“ | |||||
samen Alla-Breve-Takt. Den Staubwedel | „‚In Deine Hände., von Willi Kollo.“ | |||||
hat sie samt ihrer rechten Hand in die | „Tut mir leid, die kenne ich nicht.“ „Sie | |||||
linke des Österreichers gelegt, so dass das | ist ganz neu.“ | |||||
rosa Federbüschel vor ihnen hertanzt wie | „Ich glaube nicht, dass wir die am | |||||
ein betrunkener Vogel. Wenn jetzt nur der | Lager haben. Einen Augenblick, bitte … | |||||
Abteilungsleiter nicht vorbeischaut. Dorly | Nein, tut mir leid. Die müsste ich außer | |||||
hält sich den Österreicher vom Leib mit | Haus bestellen. Sie könnten sie dann | |||||
forsch gezischten Befehlen. „Rücken ge- | morgen hier abholen.“ |