„Hey, du alte Sau”Der griechische Linguist JANNIS K.ANDROUTSOPOULOShat als Erster systematisch untersucht, wie deutsche Jugendliche kommunizieren | liche die Erzählung eigener Er- | |||
lebnisse mit Mehrfachintensi- | ||||
vierungen wie „Ich war super | ||||
abartig genervt“ oder „Es war | ||||
echt voll der Hammer“. Als | ||||
Linguist fragt man sich, warum | ||||
sprechen die so? Die Antwort: | ||||
Wenn du heute in einer Clique | ||||
etwas erzählst, musst du | ||||
[id:21568], um signalisieren zu | ||||
können, dass das folgende The- | ||||
ma für dich von übergeord- | ||||
neter Bedeutung ist. | ||||
DIE WOCHE Hört sich nach In- | ||||
flation an. | ||||
ANDROUTSOPOULOS Inflation ist | ||||
Z U R P E R S O N | tatsächlich mit im Spiel, es | |||
JANNIS K. ANDROUTSOPOULOS | DIE WOCHE Was regeln Jugend- | fördert allerdings auch [id:21569]. | ||
(30) studierte in Athen Ger- | liche mit solchen Codes? | So ist es inzwischen gängig, | ||
manistik und kam 1991 als | ANDROUTSOPOULOS[id:21566].Wer | dass Intensivierungsworte eine | ||
DAAD-Stipendiat nach Hei- | den gängigen Jugendslang von | zusätzliche Funktion gewinnen. | ||
delberg. Mit seiner Doktor- | Heidelberg nicht spricht und | „Voll“ zum Beispiel wird vor | ||
arbeit „Jugendsprache und | zum Beispiel nicht weiß, was | den Artikel gestellt und man | ||
Textsorten der Jugendkultur“, | „willenlos“ oder „unterwegs | sagt: „Ich habe voll die Bauch- | ||
die demnächst im Peter Lang | sein“ bedeutet, wird aber in der | schmerzen.“ Strukturell bedeu- | ||
Verlag erscheint, liegt erstmals | aktuellen Gesprächssituation | tet das: Innerhalb eines Haupt- | ||
ein Überblick über den Stand | nicht unbedingt ausgegrenzt. | satzes wurde ein neuer Platz | ||
der Forschung vor. | Es ist nur klar, dass er nicht | für Verstärkungsworte geschaffen, | ||
dazugehört. „Willenlos“ ist ein | den es bis jetzt in keiner | |||
DIE WOCHE Warum nimmt sich | Synonym für „geil“, Erwach- | Grammatik gibt. Das pflanzt | ||
ausgerechnet ein griechischer | sene würden „ausgezeichnet“ | sich allmählich aus der Jugend- | ||
Wissenschaftler der deutschen | sagen. „Unterwegs sein“ bedeu- | sprache in die Standardsprache | ||
Jugendsprache an? | tet „berauscht“. „Ich bin techno- | fort, und ich denke, dass es | ||
JANNIS K. ANDROUTSOPOULOS | mäßig unterwegs“ bedeutet, | demnächst eine grammatikali- | ||
Mein Interesse stammt aus der | dass ich Techno-Musik mag. | sierte Möglichkeit für [id:21570] | ||
Zeit, als ich in meiner Ju- | Das ist eines der typischen | sein wird. | ||
gendclique eine für Athen ty- | offenen Muster, über die neue | DIE WOCHE Jugendliche benut- | ||
pische Jugendsprache gespro- | Ausdrücke kreiert werden… | zen gerne vulgäre Ausdrücke. | ||
chen habe und [id:21562] der | DIE WOCHE… die dann doch | Warum? | ||
Eltern und der Erwachsenen | eine Gruppe aus- und abgren- | ANDROUTSOPOULOS Sie sind na- | ||
spürte: So zu sprechen gehörte | zen? | türlich die besten Beispiele für | ||
sich nicht. Dann habe ich | ANDROUTSOPOULOS Ein Mäd- | Provokation und Abgrenzung. | ||
Germanistik studiert, und nun | chen aus der Gruppe, mit der | Bei Vulgarismen ist jugend- | ||
interessiert mich eben, wie die | ich gearbeitet habe, erzählte | lichen Sprechern am ehesten | ||
Jugendlichen hier sprachlich in- | mir, dass sie im Gespräch mit | bewusst, dass sie anders als | ||
novativ wirken. | einem gleichaltrigen Theologie- | Erwachsene reden. Man muss | ||
DIE WOCHE Und Ihr Forschungs- | studenten gesagt habe, ein | [id:21571] sehen, dass völlig an- | ||
ziel? | Freund von ihr sei „total un- | dere Bedeutungen entstanden | ||
ANDROUTSOPOULOS In den Me- | terwegs gewesen“. Sie meinte | sind. Spielt einer Flipper und | ||
dien und auch in Lexika wurde | „sehr empört“. Der Theologie- | sagt dabei entnervt „ficken“, | ||
Jugendsprache bisher nur bruch- | student war [id:21567] der spe- | bedeutet das, dass er immer | ||
stückhaft und als etwas Exo- | ziellen jugendsprachlichen Va- | den Ball verliert. „Verfickt“ be- | ||
tisches dargestellt. Dahinter | rietät [id:21567] und fragte nach, | deutet, dass in einer Sache der | ||
stecken [id:21563]. Unterstellt | wohin der Freund denn ge- | Wurm steckt. | ||
wird etwa, dass hinter jugend- | gangen sei. Das Mädchen wird | DIE WOCHE Gibt es schichten- | ||
sprachlichen Mustern Denk- | ihn nun nicht ausgrenzen, sich | spezifische Unterschiede in der | ||
faulheit stehe. Die neuere For- | aber reservierter verhalten - | Jugendsprache? | ||
schung und auch meine Arbeit | wer die Bedeutung solcher | ANDROUTSOPOULOS Dass es Un- | ||
setzen dem die systematische | Ausdrücke nicht kennt, hat kei- | terschiede gibt, haben Sozio- | ||
Beschreibung des Sprachmate- | ne Ahnung von der spezifi- | linguistik und Dialektsoziolo- | ||
rials entgegen. Da zeigt sich, | schen Szene. | gie festgestellt. Das Maß an | ||
dass Jugendliche sich sehr wohl | DIE WOCHE Sie sagen, dass Ju- | Dialektgebrauch zum Beispiel | ||
[id:21564] ausdrücken, dass sie | gendsprache sich über Sprach- | hängt mit der sozialen Her- | ||
Tendenzen der Gegenwarts- | spiele weiterentwickelt. Haben | kunft zusammen. Die Jugend- | ||
sprache aufgreifen und weiter- | Sie ein Beispiel dafür? | sprachenforschung hat aber | ||
entwickeln. | ANDROUTSOPOULOS Jugendliche | herausgefunden, dass unter- | ||
DIE WOCHE Stimmt es, dass Ju- | sagen häufig nicht mehr „ich | schiedliche soziale Schichten | ||
gendsprache provozieren oder | sagte“ oder „ich meinte“ und | viele Ausdrücke [id:21572]. Das | ||
ausgrenzen soll? | lassen dann ein Zitat folgen. | Negationswort „null“ ist ein | ||
ANDROUTSOPOULOS Das kann | Sie sagen vielmehr: „Ich so“, | Beispiel dafür. Schichtunab- | ||
vorkommen, ist aber gegenüber | „er so“. Ihre Erzählungen wer- | hängig und im gesamten | ||
anderen Funktionen eher ne- | den dadurch schneller und | deutschsprachigen Raum hört | ||
bensächlich. Ich kann zeigen, | prägnanter als die Erzählungen | man „null“ als Negationswort | ||
dass einzelne Wörter und | Erwachsener. | wie in „null Ahnung“, Begriffe | ||
Sprachbilder, auch wenn sie | DIE WOCHE Geht es tatsächlich | wie „abgedreht“ oder „durch- | ||
grotesk oder provokativ sind, | nur darum, lebendig zu er- | geknallt“, auch Begrüßungs- | ||
[id:21565] haben. Ich wurde in | zählen? Oder spielt Angst mit, | formeln wie „hallo Alter“. | ||
der Clique irgendwann mit | überhaupt gehört zu werden? | |||
„Hey Jannis, du alte Sau“ be- | ANDROUTSOPOULOS Es gibt | Interview: JÜRGEN BERGER | ||
grüßt: eine Beschimpfung, die | schon einen starken Druck, das | |||
Akzeptanz bedeutet. So be- | Interesse der Gesprächspartner | DieWoche, 10.10.1997 | ||
grüßt wird nur, wer dazugehört. | zu wecken. Bestes Beispiel: | |||
Inzwischen schmücken Jugend- |