Von Thomas Saum-Aldehoff
Manche Menschen sammeln Briefmarken, andere | Ritt auf der Kanonenkugel: Die L?ge fasziniert die Menschen seit jeher, wie die Abenteuer des Freiherrn von M?nchhausen zeigen. Das ?ber 200 Jahre alte Buch lieferte auch die Vorlage f?r Hans Albers im Film ?M?nchhausen?. |
sammeln Lügen. Bella DePaulo und ihre Kollegen trugen | |
binnen zwei Wochen 1500 Lügen zusammen. Das ist nun | |
aber keineswegs guinnessbuchverdächtig, sondern eine | |
[id:21269] Alltagsausbeute. Die Sozialpsychologen von der US- | |
Universität Virginia hatten 150 Normalverbraucher 14 Tage | |
lang über ihre kleinen und großen Unaufrichtigkeiten | |
Protokoll führen lassen. Ähnlich dem Fahrtenbuch für | |
ertappte Verkehrssünder legten sie ein persönliches | |
Lügenbuch an, in das sie gewissenhaft die Begegnungen und | |
Gespräche des Tages eintrugen - samt den Schwindeleien, die | |
sie sich dabei leisteten. | |
Das Resultat: In jedem vierten mindestens zehnminütigen | |
Beisammensein wurde gelogen. Hochgerechnet macht das | |
pro Durchschnittsflunkerer die stattliche Ausbeute von ein | |
bis zwei Lügen pro Tag. Münchhausen kann stolz sein auf | |
seine Nachfahren, zumal 70 Prozent der Versuchslügner | |
nicht einmal [id:21270] . Gaben sie doch zu Protokoll, daß sie in | |
ähnlichen Situationen auch künftig nicht vor kleinen | |
Unwahrheiten zurückschrecken würden. | |
Auch zeigten sich die überführten Alltagslügner | |
keineswegs überrascht von der eigenen Unaufrichtigkeit. | |
Uns allen ist [id:21271] , daß wir bisweilen die Wahrheit | |
zurechtbiegen. Warum auch nicht, denn andere, so glauben | |
wir zu wissen, sind schließlich noch größere Lügner. Das | |
schlechteste Image in dieser Hinsicht hat die Boulevard- | |
presse, wie der britische Lügenforscher Peter Robinson | |
ermittelte. Es folgen Werbung, Politiker und Regierungen. | |
Wissenschaftlern und Pfarrern trauten die Befragten noch am | |
ehesten über den Weg. [id:21272] , so Robinson, vertrauen | |
wir unseren Angehörigen und Freunden. 77 Prozent der | |
Interviewten waren überzeugt, daß ihr „bester Freund“ sie | |
nie und nimmer anlügen würde, 69 Prozent glaubten dies | |
auch von „guten Freunden“ - und immerhin noch 60 Prozent | |
empfanden den Kreis der Familie als lügenfreie Zone. | |
Ist also unser engstes Umfeld eine Insel der Aufrichtigkeit | |
im Ozean der Täuschung, der uns umgibt? [id:21273] . Zwar hat | |
die Forschung festgestellt, daß tatsächlich um so seltener | |
gelogen wird, je näher die beiden Gesprächspartner einander | |
stehen. Doch wie sich herausstellte, wird auch in der Familie | |
und unter Freunden geflunkert, werden häßliche Wahrheiten | |
unter der Decke gehalten. | |
Die Lügenforscher stehen also vor einem Paradox: | |
Einerseits wissen Menschen recht genau, wie häufig sie selbst | |
sogar nahestehende Menschen belügen - andererseits | |
glauben sie, daß sie ihrerseits von guten Freunden nicht | |
belogen werden. Jeannette Schmid, Psychologin an der | |
Universität Heidelberg, hat sich mit diesem Widerspruch | |
auseinandergesetzt. Einen der Gründe sieht sie in einer | |
Marotte unseres Seelenapparats: Wir neigen dazu, | |
zwischenmenschliche Nähe und Ehrlichkeit [id:21274] . Wie | |
man aus Experimenten weiß, sind wir eher bereit, einem | |
Menschen Glauben zu schenken, wenn dieser uns etwas sehr | |
Privates und Intimes anvertraut. Schmid sieht hier eine Art | |
„Norm der Gegenseitigkeit“ am Werk: „Dieser Mensch | |
vertraut mir, denn er teilt mir etwas mit, was ihn verletzlich | |
macht. Also muß ich ihm gefälligst auch etwas Vertrauen | |
entgegenbringen.“ [id:21275] , so die Expertin für Sozial- und | |
Gerichtspsychologie, denn „tatsächlich hat die Intimität einer | |
Botschaft rein gar nichts mit ihrem Wahrheitsgehalt zu tun.“ | |
Doch selbst wenn man es kaltschnäuzig übers Herz bringt, | |
nach einer bewegenden Beichte seines Gegenübers skeptisch | |
nachzufragen, ist es gar nicht so leicht, dessen mutmaßliches | |
Lügengeflecht zu enttarnen. Menschen sind nämlich von | |
Natur aus schlechte Lügendetektoren. Die Trefferquote im | |
experimentellen Lügenerkennen liegt meist nur knapp über | |
dem Zufallsniveau. Das hängt auch damit zusammen, daß der | |
mutmaßliche Lügner seine Strategie vertuscht, weiß | |
Jeannette Schmid: „Kommt unser Gegenüber auf den | |
Gedanken, daß seine [id:21276] auf dem Prüfstand steht, kann | |
er die Rückfrage, die wir stellen, als Feedback nutzen und | |
seine Darstellung nach Kräften plausibler machen.“ | |
Andere Lügen unter einander nahestehenden Menschen | |
haben den Zweck, Konflikten aus dem Wege zu gehen, | |
indem man Meinungsverschiedenheiten zudeckt. Oft muß | |
man nicht gleich lügen, um eine Situation zu retten. Eine | |
Forschergruppe um Janet Beavin Bavelas aus dem | |
kanadischen Viktoria analysierte, zu welchen Ausflüchten | |
Menschen [id:21277] greifen.Was um Himmels willen sagt man | |
zum Beispiel einer vom Stolz geblendeten Mutter, die einen | |
freudestrahlend auffordert, ihr ausnehmend häßliches Baby | |
zu bewundern? Hier kann der galante Schwindler von Welt | |
sein ganzes Können unter Beweis stellen. Das Repertoire | |
reicht von der unverblümten Notlüge („Ein wirklich | |
hübsches Kerlchen!“) über gewagte Doppeldeutigkeiten | |
(„Ganz die Mama!“) bis hin zu filigranen Ablenkungen | |
(„Kleine Kinder sind schon etwas Erstaunliches“). | |
Skrupelhafte Heuchler machen sich in solchen Situationen | |
[id:21278] zunutze, weiß Jeannette Schmid: „Lautet die Frage | |
?Hast du noch Kontakt zu Philipp?‘ und die Antwort | |
wahrheitsgemäß ?Den habe ich schon seit Monaten nicht | |
mehr gesehen‘, so kann sich dahinter die Tatsache verbergen, | |
daß der Angesprochene sehr wohl noch am Vorabend mit | |
Philipp telefoniert hat.“ | |
Manche Forscher und vielleicht auch die Gesellschaft | |
insgesamt sehen die Lüge heute nicht mehr ganz so | |
moralisch wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Die | |
Heidelberger Psychologin stellt fest, das Bild des Lügners | |
habe sich „vom bösartigen, kranken oder wenigstens | |
fehlentwickelten Manipulator zu dem vom Kommunikator | |
gewandelt, der versucht, seine Mittel optimal einzusetzen, um | |
einen falschen Eindruck beim Gegenüber zu erzielen - ohne | |
dabei dem anderen unbedingt Schaden zufügen zu wollen.“ | |
Anders als wirklich üble Lügenvarianten wie Verrat und | |
Denunziation seien „Täuschen, Schwindeln, Beschönigen, | |
Übertreiben ganz [id:21279] Formen der Kommunikation“. | |
Frankfurter Rundschau, 28.3.1998 |