Der herkömmliche Intelligenztest ist überholt -
die Forschung kann Begabungen früher erkennen
und für die Gesellschaft besser nutzen
Von Michael O.R. Kröher
1 | Zu kaum einem Punkt im | Fähigkeiten abgestimmt sind, | ||||||
„Fragebogen“ der WOCHE | so entwickeln sie sich auch über | |||||||
sind die Antworten so | 50 | eine einzelne Spezialbegabung | ||||||
unterschiedlich und so | hinaus. | |||||||
5 | strittig wie bei der Frage nach den | 6 | Hochbegabte, auch das | |||||
„klügsten Köpfen“ unserer Zeit. | machen die Wissenschaftler | |||||||
Genie, so scheint es, lässt sich zumin- | klar, sind keine besseren, son- | |||||||
dest mit den herkömmlichen Maß- | 55 | dern nur besondere Menschen. | ||||||
stäben nicht einheitlich bewerten. | Spezielle Fertigkeiten, wie sie | |||||||
2 | 10 | Einvernehmen stellt sich höchstens beim Blick in | etwa bei 14-jährigen Schach-Großmeistern, Klavier- | |||||
die Kulturgeschichte ein: Leonardo da Vinci, Johann | virtuosen, Geräteturnerinnen oder Gewinnern von | |||||||
Wolfgang von Goethe, Albert Einstein - an deren Ge- | Mathematik-Olympiaden erkennbar werden, brau- | |||||||
nie mag keiner zweifeln.Wer aber geht heute wider- | 60 | chen Anleitung und Kollegialität, Zuwendung und | ||||||
spruchslos als Universaltalent durch? | Ansporn. Ohne solche Korrektive ist die Gefahr groß, | |||||||
3 | 15 | Neue Erkenntnisse der Psychologen, der Gen- | dass sie schließlich doch zu einseitig Begabten ver- | |||||
forscher und Molekularbiologen könnten da Abhilfe | kümmern. | |||||||
schaffen. Sie ergeben eine neue Definition von | 7 | Um das Potenzial der neuen Intelligenz für unsere | ||||||
Intelligenz. Dabei wird nicht nur abstraktes Denken | 65 | Gesellschaft auszuschöpfen, muss der Umgang mit | ||||||
gespiegelt, sondern es werden auch alltägliche Fähig- | den Super-Begabten über ihre Erforschung hinaus | |||||||
20 | keiten wie souveräne Bewegungen, Einfühlungs- | alltäglich werden. Die außerordentlichen Talente | ||||||
vermögen in andere Menschen und Fähigkeit zu | müssen noch systematischer gesucht und gefördert | |||||||
Selbstkritik berücksichtigt. Die Forschungsergebnisse | werden als bisher. | |||||||
liefern sogar Ansatzpunkte, wie bei Kindern beson- | 8 | 70 | Dafür sind nicht unbedingt andere Institutionen | |||||
dere Talente erkannt und gefördert werden können. | notwendig. Seit sich herumgesprochen hat, dass das | |||||||
25 | Genie wäre demnach kein Produkt des Zufalls mehr, | Verkennen von Genies bei allen Betroffenen min- | ||||||
Genie wäre machbar. Notwendig sind immer noch | destens zu ebenso großen Problemen führt wie | |||||||
entsprechende Erbanlagen. | umgekehrt die Überforderung von durchschnittlich | |||||||
4 | Wie sich außergewöhnliche Fähigkeiten im Aufbau | 75 | Intelligenten, werden immer mehr Kindergärten und | |||||
des Gehirns niederschlagen, ist heute enträtselt: Be- | „Sonderschulen“ für Hochbegabte eingerichtet. Die | |||||||
30 | stimmte Nervenbahnen entwickeln ihre ursprünglich | Studienstiftung des deutschen Volkes und die | ||||||
lose Verknüpfung zu festen Schaltungen. Beim | Deutsche Forschungsgemeinschaft kümmern sich um | |||||||
Weiterleiten der Impulse gibt es dadurch weniger | akademisch Qualifizierte, Wettbewerbe wie „Jugend | |||||||
Zeit- und Streuverluste. Über solche Schaltpläne im | 80 | forscht“, „Jugend musiziert“ oder „Jugend trainiert | ||||||
Gehirn kann dann das sogenannte „vernetzte Den- | für Olympia“ bieten Anreize und lassen Höchst- | |||||||
35 | ken“ entstehen, das verschiedene Themen- und Er- | begabung früher erkennen. | ||||||
fahrungsbereiche auf ungewöhnliche Weise kombi- | 9 | Wer akzeptiert, dass so Eliten geschaffen werden, | ||||||
niert - etwa das Sprachverständnis mit Bewegungs- | muss allerdings auch dafür sorgen, dass deren Mit- | |||||||
mustern aus Tanz oder Gymnastik. | 85 | glieder sozial integriert bleiben. Andernfalls droht | ||||||
5 | Vernetztes Denken - und damit Genie - lässt sich | Kaderbildung wie etwa in Frankreich, wo sich die | ||||||
40 | weitaus stärker fördern und ausbauen als bisher an- | Zirkel um die Absolventen der Eliteschulen weit- | ||||||
genommen. Nach etwa zwei Lebensjahren, wenn jede | gehend von der Gesellschaft abschotten - und in der | |||||||
Nervenzelle durchschnittlich 15 000 Verbindungen | realen Welt dann doch versagen. | |||||||
aufgebaut und das Gehirn damit maximale „Plastizi- | 10 | 90 | Der neue Begriff von Intelligenz eröffnet die Aus- | |||||
tät“ erreicht hat, werden jene Schaltstellen wieder | sicht auf eine bessere Zukunft, in der sensible, sozial | |||||||
45 | abgebaut, die nicht häufig genug benutzt werden. | verantwortliche, selbstkritische Menschen die Ge- | ||||||
Stimuliert man jedoch die Kleinen immer weiter zur | schicke lenken - und Mittelmaß immer weniger als | |||||||
Lösung von Aufgaben, die individuell auf ihre | Basis unserer Gesellschaft herhalten muss. | |||||||
Die Woche, 28.3.1997 |