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Gratwanderungen

Gratwanderungen¹) zwischen Grenzfällen

1 Wenn Journalisten vor Publikum über ihr    Auto in den Zeitungen plazieren kann.
 Berufsethos philosophieren, dürfen sie vor allem mit440 Nun zeigt die Erfahrung des Geschäftslebens
 zwei Reaktionen rechnen: Entweder müssen ihre generell, daß man Umsatz und gute Gewinne leider
 Zuhörer furchtbar lachen, weil sie es für nicht nur mit Qualität erzielen kann, sondern auch
5 ausgeschlossen halten, daß „die Journaille“ überhaupt mit Schrott und Schund. Von dieser Möglichkeit wird
 über ein Gewissen verfügt. Oder man verlangt von auch im Mediengeschäft genügend Gebrauch
 uns die Neuformulierung der Zehn Gebote zur45 gemacht. Wem es nur um Quoten und Auflagen geht,
 sofortigen Erschaffung des Neuen Menschen unter der wird irgendwann feststellen, daß man die sehr gut
 besonderer Berücksichtigung des Journalisten. Für auch mit den windigsten Enthüllungen erzielen kann
10 den sind freilich beide Reaktionen nur mäßig oder mit den gemeinsten Eingriffen in die Privat-
 hilfreich: Wir wollen doch nur unseren Beruf sphäre anderer Menschen. Die werden dann auch
 ausüben, einigermaßen anständig.50 immer wieder von Journalisten publiziert und
2 Daß das schwierig genug ist, hat objektive Gründe. gesendet. Für die anderen Journalisten, die sich dafür
 Vielleicht sollte man vorausschicken, daß Medien- schämen, ist es nur ein schwacher Trost, daß ohne die
15 Beschäftigte im Durchschnitt nicht unsittlicher (oder große Nachfrage des Publikums das Ganze nicht
 sittlicher) sind als die Angehörigen der meisten funktionieren würde.
 anderen Berufsgruppen. Wir können insoweit ganz555 Das Problem für den gewöhnlichen Medien-
 gut mithalten mit, sagen wir: Steuerberatern oder facharbeiter sind nun freilich nicht die krassen Fälle
 Automechanikern. Allerdings üben wir das aus, was von Bestechlichkeit (die vorkommen, aber nicht zu
20 die Juristen einen „gefahrgeneigten Beruf“ nennen. häufig), sind auch nicht die von Märchenerzählern
 Journalisten sind, beispielsweise, umzingelt von frei erfundenen Geschichten, die unser aller Glaub-
 Leuten, die sie über den Tisch ziehen oder wenigstens60 würdigkeit beschädigen: Das Problem für unsereinen
 über die Medien etwas ganz Wichtiges verkaufen sind die vielen Grenzfälle, die Gratwanderungen, bei
 wollen. Auch kann es vorkommen, daß sie für denen auch der Gerechte wöchentlich 99mal ins
25 Unternehmen arbeiten müssen, denen es nur darum Straucheln kommt. Vermutlich ist das auch ganz
 geht, mit Hilfe von Journalisten schrecklich reich zu unvermeidlich in einem Beruf, bei dem der
 werden. Sollten diese Journalisten freilich selbst unter65 Tageszeitungsjournalist gezwungen ist, manchmal in
 größeren Charaktermängeln leiden, so haben sie viel wenigen Stunden über komplizierteste Sachverhalte
 Gelegenheit, damit eine Menge Schaden anzurichten. zu berichten und Urteile zu fällen; es ist un-
330 Die Stichwörter in Sachen Ethik kennt inzwischen vermeidlich in einem Beruf, in dem es auch beim
 jeder: Sie heißen Korruption und Scheckbuch- besten Willen nicht möglich ist, jedem Problem und
 Journalismus, heißen Rufmord auf der einen oder70 jeder Person immer auch nur annähernd so gerecht zu
 Gefälligkeits-Schreiberei auf der anderen Seite. Viele werden, wie die es eigentlich verdienen würden.
 der Gefahren, denen Journalisten manchmal erliegen6 Sich dieser Unzulänglichkeiten bewußt zu sein, gehört
35 und meist mit großer Kraft auszuweichen versuchen, ebenfalls zum Tugendkatalog eines Journalisten -
 haben mit Geld zu tun: Mit dem Geld, das zu und übrigens auch des Medien-Endverbrauchers. Der
 verdienen ist, wenn ein Interessent einen Artikel über75 freie Journalismus ist unvollkommen, aber eine
 seinen großartigen neuen Film oder sein tolles neues Alternative für ihn gibt es nicht.
  
  Herbert Riehl-Heyse, in: Süddeutsche Zeitung
  Intern 1998, Sondernummer

¹ Buchstäblich: eine Wanderung auf einem schmalen Berggrat