Background image

terug

Partielle Justizfinsternis

Tekst 4

Partielle Justizfinsternis

1 Die Geschichte könnte von Kafka sein. Da lebt
 ein armer Mann viele Jahre lang mit dem Wahn,
 ihm seien „Abhörwanzen“ in beide Ohren einge-
 pflanzt worden. Schlimm genug. Und eines Tages,
5 gerade als er wieder Linderung erhofft, machen
 ihm Psychiater und Richter das Leben vollends zur
 Hölle: Sie sperren den Hilfesuchenden für einige
 Wochen ohne Not in eine geschlossene Abteilung.
 Die Hausärztin wird nicht gefragt. Die hat ihren
10 Patienten für alle Fälle in die HNO-Ambulanz
 eines Klinikums überwiesen - vielleicht stimmt ja
 mit seinen Ohren wirklich etwas nicht.
2 Die Geschichte hat sich 1996 in Deutschland
 zugetragen. Mitwirkende waren Ärzte und vor
15 allem Richter dreier Instanzen. Sie sperrten den
 Patienten zu seinem eigenen Wohl für eine so-
 fortige Zwangsbehandlung ein. Durften sie das?
 Das Bundesverfassungsgericht antwortete mit
 einem donnernden Nein. Es bezog sich auf eine
20 Entscheidung von 1981 und wandte sie mit
 wuchtigen Worten zur Freiheit der Person zu-
 gunsten des Patienten an. Der habe schließlich
 schon sehr lange mit seinem Wahn gelebt, ohne
 sich selbst oder Dritte zu gefährden.
325 Die Psychiatrie-Geschichte gehört zu diesen
 vielen Fällen partieller Justizfinsternis im Lande,
 bei denen man dankbar sein muß für die Existenz
 des Karlsruher Gerichts und der dorthin füh-
 renden Verfassungsbeschwerde. Mag letztere auch
30 selten erfolgreich sein: Dank ihr hat sich das
 Bundesverfassungsgericht (auch) zu einer Doku-
 mentationsstelle des Versagens von Justiz und
 Behörden entwickelt.
 
 Süddeutsche Zeitung, 25./26.4.1999