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Das Ende der Jugendkultur

Das Ende der Jugendkultur

    
1     Die Jugend zeigt präzise, wie es um die Gesellschaft bestellt ist. Deshalb
 widmen sich Sendungen im TV, die von früheren Jahrzehnten erzählen, zu
 großen Teilen der Jugendkultur, um eine Epoche ins Bild zu bringen. Die 60er
 Jahre werden an kreischenden Mädchen im Beatles-Konzert und an Woodstock
 entlang erzählt, die 70er an Rock und Punk, die 80er an HipHop und Pop. Mitte
 der 90er Jahre endet die Erzählung von der Jugendkultur als Universalkultur des
 Aufbruchs, etwa zeitgleich mit dem Selbstmord des Nirvana-Sängers Kurt
 Cobain am 5. April 1994. Wer heute wissen möchte, wie Jugend tickt, muss
 lange suchen. Was im Umkehrschluss bedeutet: Wer heute jung ist, hat es
 schwer, Möglichkeiten der Abgrenzung zu finden.
2     Eine „geradezu verzweifelte Vereinzelung“ beobachtet Wolfgang Kaschuba
 unter heutigen Jugendlichen. „Viele suchen nach einer Gruppenform“, sagt der
 Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Uni Berlin. Früher fand
 man sie vor allem über die Musik, die privilegierte Ausdrucksform von
 Jugendlichkeit. Die Gruppen und Milieus definierten sich bis vor etwa 15 Jahren
 über Stile wie Punk, kleideten sich in die Codes der jeweiligen Gemeinschaft
 und bedeuteten damit jedem: Wir sind anders als die. Wobei mit „die“ wahlweise
 Eltern, Lehrer, verfeindete Gruppen oder überhaupt der ganze Staat gemeint
 waren. „Dieses Wechselspiel von Zuordnung und Differenz ist maßgeblich für
 die Entstehung von Jugendkultur“, sagt Wolfgang Kaschuba, „aber es
 funktioniert nicht ohne den Zusammenschluss zu einem Wir.“ Das Dilemma
 heute: Vielen Jugendlichen gelingt die Zuordnung nicht mehr, nur mehr die
 Abgrenzung. Für sie gibt es nur noch das „Die“. In der prekären Grauzone
 zwischen Kindheit und Erwachsensein fehlt oft die Geborgenheit durch
 Gleichgesinnte.
3     Ein Grund für das Ende von Jugendkultur als gemeinschaftlichem Erleben ist
 der Zugriff des Marketings auf die Subkultur. Alles Neue und also alle
 Möglichkeiten, sich kreativ abzugrenzen, werden sofort aufgespürt und
 unmittelbar vermarktet. Beispiel Graffiti-Kunst: Um bei einer jungen Zielgruppe
 Glaubwürdigkeit zu erreichen, warb Sportartikelhersteller Nike zur Fußball-WM
 2006 in Berlin mit seinem auf Wände gesprühten Logo. Die Kampagne war als
 solche nicht zu erkennen, sie wirkte wie von Jugendlichen illegal gesprayt.
 „Jugendkultur ist heute eine medial gelebte Kultur“, sagt Wolfgang Kaschuba.
 „Deshalb ist es für Jugendliche auch schwer zu unterscheiden, was echt ist und
    
        Rheinische Post