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Das große Arten-Raten

Das große Arten-Raten

Wie schlimm das Tier- und Pflanzensterben weltweit ist, lässt sich kaum abschätzen

1     Es klingt wie eine gruselige Holly-    Rehe es in Deutschland gibt“, so der
 wood-Fiktion: Nicht einmal die Hälfte60 Artenschutzexperte. Mit voreiligen
 der heute existierenden Tier- und Schlüssen müsse man also vorsichtig
 Pflanzenarten wird das Ende dieses sein.
5 Jahrhunderts überleben, wenn die4     Doch viele Wissenschaftler gehen
 Menschen damit fortfahren, Organis- davon aus, dass jährlich hunderte bis
 men und Lebensräume zu zerstören.65 tausende verschiedener Arten durch
 Die Weltnaturschutzunion IUCN Menschenhand unwiederbringlich
 spricht von einem dramatischen Rück- verschwinden. Nach Einschätzung von
10 gang der Biodiversität. Der Mensch Karl Eduard Linsenmair, Professor für
 trage bereits seit etwa 100 000 Jahren Tierökologie und Tropenbiologie an
 signifikant zum weltweiten Arten-70 der Universität Würzburg, dürften
 sterben bei, so die IUCN, die jährlich jährlich nicht mehr als vier Arten
 die internationale „rote Liste“ gefähr- verschwinden, damit sich Entstehungs-
15 deter Tier- und Pflanzenarten ver- und Aussterberate ausgleichen könn-
 öffentlicht. Zwar ist das Aussterben ten. Die Realität sähe aber ganz anders
 von Arten durchaus auch ein natür-75 aus, sagt Linsenmair. Ende der 90er
 licher Vorgang. Doch durch den Ein- Jahre untersuchte er ein Wald-Areal
 griff des Menschen vor allem in die im Osten Borneos, in dem vor einem
20 Lebensräume seien die aktuellen Raten Jahrhundert Bäume abgeholzt worden
 um das Hundert- bis Tausendfache waren. „Auf den ersten Blick sah dieses
 erhöht. Aussagen, die sich auch Natur-80 Gebiet wieder aus wie der ursprüng-
 schutzorganisationen wie der World liche Wald“, so Linsenmair. „Doch bei
 Wildlife Fund (WWF) international unseren Untersuchungen stellten wir
25 gerne auf die Fahnen schreiben. fest, dass allein 40 Prozent der
2     Weltweit soll es etwa 30 Millionen Ameisenarten, die normalerweise im
 Tier- und Pflanzenarten geben. Die85 Primärwald leben, in diesem Gebiet
 Zahl beruht auf Forschungsergebnis- fehlten. Bedenkt man nun, dass in
 sen und Tierzählungen im tropischen Brasilien schon 90 bis 95 Prozent des
30 Regenwald Panamas. Doch solche Tropenwaldes zerstört sind, dann halte
 Untersuchungen lassen sich nicht auf ich Hochrechnungen über das welt-
 die Verhältnisse etwa in Mitteleuropa90 weite Artensterben prinzipiell für
 übertragen. Vielleicht gibt es also doch gerechtfertigt – obwohl es natürlich
 „nur“ acht Millionen Arten – oder aber regionale Unterschiede gibt.“
35 über hundert Millionen, wenn man an5     Anstatt Horrorvisionen zu insze-
 die vielen noch unentdeckten Bakte- nieren, setzt das Bundesamt für Natur-
 rien denkt? Die Schätzungen verschie-95 schutz deshalb auf die international
 dener Forschergruppen und Umwelt- anerkannten roten Listen als
 organisationen weisen enorme Unter- Bewertungsinstrument. Darin wird nur
40 schiede auf. Wie aussagekräftig sind der Gefahrenstatus von Tier- und
 solche Zahlen also überhaupt? Pflanzenarten beurteilt, über die
3     „Das fragen wir uns auch manch-100 gesicherte Daten vorliegen. Doch auch
 mal“, sagt Harald Martens, Arten- diese Zahlen sind in vielen Fällen
 schutzexperte beim Bundesamt für besorgniserregend: So ist der Bestand
45 Naturschutz. Auch beim WWF des Sperlings in Deutschland in den
 Deutschland ist man vorsichtiger vergangenen sechs Jahren um 20
 geworden, wenn es darum geht, welt-105 Prozent zurückgegangen. Der Spatz
 weit gültige Prognosen zur Artenviel- wurde daher im Jahr 2002 in die so
 falt aufzustellen. „An globalen Hoch- genannte Vorwarnstufe für gefährdete
50 rechnungen darüber, wie viele Arten Tierarten eingestuft. „Wir sehen eine
 tatsächlich innerhalb der letzten hun- derartige Entwicklung inzwischen auch
 dert Jahre auf der Erde ausgestorben110 bei den so genannten Allerweltsarten“,
 sind, beteiligen wir uns nicht gerne“, sagt Martens. „Wichtig ist doch das,
 sagt Stefan Ziegler vom Fachbereich worin wir uns alle einig sind: Die Tie-
55 Biodiversität. Bei solchen Aussagen rund Pflanzenbestände gehen durch den
 handle es sich letztendlich um Wahr- Eingriff des Menschen stark zurück –
 scheinlichkeiten. „Im Grunde weiß115 da dürfen wir nicht tatenlos zusehen.“
 man noch nicht einmal genau, wie viele