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Wenn man sein eigenes Leben leben will, ist man unten durch.

„Wenn man sein eigenes Leben leben will, ist man unten durch.“

1    FRANKFURT. Zu einem Titel bei den Junioren-    findet: „Die haben erst eingelenkt, als wir von der
 Weltmeisterschaften hat es zwar nicht gereicht, Schule massiv Druck gemacht haben.“
 aber immerhin zu einem dritten Platz. Und deshalb4    Ein Einzelfall? Mitnichten. In einer Studie untersucht
 gehörte Mirko Vergien zu den Nachwuchsruderern,60 die Berliner Sportwissenschaftlerin Imke
5 von denen man sich große Taten versprach. Bona Beweggründe und soziale Beziehungen von
 Vor über elf Jahren hat der jetzt 19jährige Leistungssportlern im Alter zwischen 16 und 21
 Stralsunder mit dem Rudern begonnen, irgendwann Jahren, die ihre Laufbahn abgebrochen haben. Sie
 ist man auf sein Talent aufmerksam analysierte die Erfahrungen von bislang 13 sogenannten
 geworden. Seitdem hat Vergien alles dafür getan,65 „Dropouts“ aus unterschiedlichen sportbetonten
10 seinen Traum zu verwirklichen: Er hat sich im Schulen. Die Sportpädagogin kommt zu
 Kraftraum gequält, nach ausgeklügelten Trainingsplänen dem Schluß, daß die sportlichen Aussteiger von
 seine Ausdauer verbessert, und vor vier Jahren ihren Vereinen und Verbänden in der Regel „völlig
 ging er nach Rostock, um im Sportinternat der allein gelassen“ würden: „Sobald sie dem System
 Christophorus-Schule den Spagat zwischen Schule70 nicht mehr angehören, besteht absolutes Desinteresse
15 und Sport zu schaffen und noch mehr trainieren zu an ihnen.“ Meist reicht es nicht einmal dazu,
 können; zuletzt manchmal vier Stunden am Tag. den Jugendlichen einen gesundheitlich risikofreien
 Doch irgendwann überkamen ihn Zweifel.Vergien Ausstieg zu ermöglichen. Bei den „Dropouts“, die
 begann darüber nachzudenken, was er dem Sport Imke Bona bislang interviewte, hat sich kein einziger
 opfert und ob sich die ganze Schinderei lohnt - und75 Trainer um ein Programm zum Abtrainieren
20 vermutlich war das schon der Anfang vom Ende. bemüht.
 Am Schluß ist es ihm immer schwerer gefallen, sich5    Dabei ist ein systematischer körperlicher „Entzug“
 „bis zum letzten Blut zu verausgaben“.Vor ein paar vom Sport nur der kleinste Teil der Unterstützung,
 Wochen ist er dann zu seinem Trainer vom die gerade junge Leistungssportler nach ihrem
 Olympischen Ruder-Club Rostock gegangen und80 Ausstieg brauchen. Die Jugendlichen, von denen
25 hat ihm gesagt, daß er nicht mehr weiterrudern viele wegen körperlicher Beschwerden oder aufgrund
 werde. stagnierender Leistungen mit dem Sport aufhören,
2    Das ist keine leichte Entscheidung, zumal der müssen nicht nur mit ihrem Scheitern fertig
 junge Mann wohl ahnte, was auf ihn zukommen werden; sie verlieren auch das Fundament ihrer
 würde. Es gab ein „Riesentheater“, und von einem85 Identität. Manche von ihnen, so war vor kurzem bei
30 Tag auf den anderen war Vergien für den Ruder- der Tagung der Leiter von sportbetonten Gymnasien
 Club eine unerwünschte Person: „Man hat mir in Kaiserslautern zu hören, geraten sogar in
 deutlich gesagt, daß ich hier nichts mehr zu suchen einen psychischen Schockzustand. „Die fallen in ein
 habe.“ Der Gymnasiast verlor jegliche Unterstützung, Nichts“, sagt der Paderborner Sportpädagoge Professor
 auch die finanzielle, was ihn in der Schule beinahe90 Wolf-Dietrich Brettschneider, Mitherausgeber
35 vom Kurs abgebracht hätte. Nur weil die des Buchs „Weltmeister werden und die Schule
 Christophorus-Schule so großzügig ist und für schaffen“. Er sagt: „Zur Nachwuchsförderung gehört
 einen Teil der Internatskosten aufkommt, kann er selbstverständlich auch, sich um die zu kümmern,
 demnächst sein Abitur machen. Andernfalls würde die aus diesem System rausgehen.“
 Vergien wohl ohne Abschluß dastehen. Weil das695    Mirko Vergien hat insofern Glück, als ihm der
40 sportbetonte Gymnasium in Rostock die letzten abrupte Übergang keine großen Schwierigkeiten
 beiden Schuljahre für die Nachwuchsleute der bereitet, zumindest bislang. Das Vakuum, das der
 sportlichen Belastung wegen auf drei Jahre Ausstieg aus dem Sport hinterlassen hat, füllt er mit
 „streckt“, wäre er anderswo nicht zum Abitur zugelassen all den Dingen, die er sich jahrelang versagen
 worden.100 mußte: ausgehen, Kontakte pflegen, ganz locker
345    Schließlich waren es auch Lehrer seiner Schule, Sport treiben, „nur aus Spaß“, sagt er. Inzwischen
 die den „Aussteiger“ vor gesundheitlichem Ungemach hat sich das Verhältnis des Rostocker Gymnasiasten
 bewahrten. Leistungssportler, vor allem in zum Ruder-Club wieder entspannt, und jetzt
 Ausdauersportarten, können nicht einfach von kann er dort auch „abtrainieren“. Nur wer die obligate
 heute auf morgen mit dem Sport aufhören, ohne105 ärztliche Abschlußuntersuchung bezahlt, steht
50 ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Der auf noch nicht fest. Der Verein, so der Abiturient, weigere
 Höchstleistung getrimmte Körper muß systematisch sich nach wie vor. Inzwischen hat seine Schule
 und behutsam auf das Leben ohne tägliche sogar mit einem Rechtsanwalt gedroht. Wie der
 Belastung vorbereitet werden. Doch auch darum Streit auch ausgeht,Vergien ist um eine Erfahrung
 scherte sich der Ruder-Club zunächst nicht. Ein110 reicher: „Solange man Leistung bringt, wird man
55 Verhalten, das Jürgen Penthin,Koordinator für den heiliggesprochen. Wenn man sein eigenes Leben
 Sport-Zweig der Rostocker Schule, „unsäglich“ leben will, ist man unten durch.“
  
  Gerd Schneider, in: Frankfurter Allgemeine
  Zeitung, 16.4.1998